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Lateinamerika erklärt seine Unabhängigkeit

Noam Chomsky

Fünf Jahrhunderte nach den europäischen Eroberungen ist Südamerika dabei, seine Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Von Venezuela bis Argentinien erheben sich weite Teile der Region, um das Vermächtnis der Fremdherrschaft der letzten Jahrhunderte abzuschütteln und die grausamen und destruktiven Gesellschaftsformen, die im Zuge dessen entstanden sind, durch etwas Besseres zu ersetzen. Die Mechanismen imperialer Kontrolle – Gewalt und ökonomische Kriegführung, für Lateinamerika keine verblasste Erinnerung – verlieren ihre Wirksamkeit. Die Unabhängigkeitsbestrebungen sind also schon ein gutes Stck vorangekommen. Washington sieht sich derzeit gezwungen, Regierungen zu tolerieren, die früher unweigerlich mit Interventionen oder Repressalien bedacht worden wären. Überall in der Region legen Volksbewegungen, die nur so vor Aktivitäten sprühen, die Basis für echte Demokratie. Die sich auf ihr präkolumbianisches Erbe besinnenden indigenen Bevölkerungsgruppen werden aktiver und auch einflussreicher, vor allem in Bolivien und Ecuador.

Diese Entwicklungen sind zum Teil auf ein Phänomen zurückzuführen, das Spezialisten und Meinungsforschungsinstitute in Lateinamerika schon seit ein paar Jahren beobachten: In dem Maße, wie die gewählten Regierungen rein formal demokratischer wurden, bekundeten immer mehr Bürgerihre Enttäuschung über die Funktionsweise der Demokratie sowie „mangelndes Vertrauen“ in die demokratischen Institutionen. Die Bürger schaffen sich derweil ihre eigenen demokratischen Strukturen. Sie wollen eine Demokratie, die aus der Teilhabe der Bevölkerung erwächst und dem Land nicht durch Eliten und Fremdherrscher von oben aufgepflanzt wird. Eine überzeugende Erklärung für das sinkende Vertrauen in die bestehenden demokratischen Institutionen hat der argentinische Politologe Atilio Borón geliefert. Er wies darauf hin, dass die neue lateinamerikanische Demokratisierungswelle vor dem Hintergrund der von außen aufgezwungenen, der Demokratie abträglichen „Wirtschaftsreformen“ zu sehen ist, mit jenem durch und durch antidemokratischen neoliberalen „Washingtoner Konsens“ also, der diejenigen Volkswirtschaften, die sich in Lateinamerika und anderswo strikt an seine Vorgaben hielten, in den Ruin getrieben hat.

Die beiden Konzepte Demokratie und Entwicklung hängen in vielerlei Hinsicht eng zusammen. Sie haben zum Beispiel einen gemeinsamen Feind: den Verlust der Souveränität. In einer Welt von Nationalstaaten versteht es sich von selbst, dass bei einer Einschränkung der Souveränität automatisch auch die Demokratie leidet und das Betreiben einer eigenständigen Sozial- und Wirtschaftspolitik unmöglich wird. Das wiederum beeinträchtigt die Entwicklung, wie die Wirtschaftsgeschichte über die Jahrhunderte immer wieder gezeigt hat. Aus dieser Geschichte geht außerdem hervor, dass dem Souveränitätsverlust die erzwungene Liberalisierung stets auf dem Fuße folgt, natürlich im Interesse derer, die über ausreichende Macht verfügen, um das von ihnen bevorzugte Sozial- und Wirtschaftsregime durchzuboxen. Dieses Zwangsregime läuft seit einigen Jahren unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“, allerdings ist der Name nicht besonders gut gewählt: Das sozioökonomische Regime ist nicht neu, und liberal ist es auch nicht, zumindest nicht nach dem Verständnis klassischer Liberaler. In den USA lässt das Vertrauen in die Institutionen ebenfalls beständig nach, aus gutem Grund. Zwischen öffentlicher Meinung und Politik besteht inzwischen eine riesige Kluft. Darüber wird zwar so gut wie nie berichtet, aber es fällt den Leuten doch auf, dass ihre eigenen Vorstellungen bei der Politikgestaltung unberücksichtigt bleiben.

Es ist lehrreich, die jüngsten Präsidentschaftswahlen im reichsten Land der Welt mit jenen im ärmsten Land Südamerikas – Bolivien – zu vergleichen. Wie schon erwähnt, hatten sich die US-amerikanischen Wähler im November 2004 zwischen zwei Kandidaten zu entscheiden, die beide aus den oberen Etagen privilegierter Eliten kamen. Die Programme der beiden Kandidaten waren auf die Bedürfnisse ihrer Hauptwählerschaft – Reichtum und Privilegien – zugeschnitten und unterschieden sich kaum voneinander. Studien über die öffentliche Meinung ergaben, dass beide Parteien, Demokraten wie Republikaner, bei einer ganzen Reihe wichtiger Themen deutlich weiter rechts – im Falle der Bush-Regierung ganz erheblich weiter rechts – stehen als die der Allgemeinheit. Unter anderem deshalb wird die Themendiskussion aus den Wahlprogrammen herausgehalten. Welche Position die Kandidaten bei diesem oder jenem Thema vertraten, das vermochten die wenigsten Wähler zu sagen. Kandidaten werden wie Zahnpasta, Autos und Lifestylepillen verpackt und vermarktet – von denselben Konzernen, mit derselben Hingabe an Lug und Trug.

Sehen wir uns zum Kontrast Bolivien und die Wahl von Evo Morales im Dezember (2005) an. Die Wähler waren mit den Themen vertraut. Es ging um lebensnahe und wichtige Dinge wie die von der überwältigenden Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung befürwortete Kontrolle ihres Landes über das heimische Erdgas und andere Ressourcen. Die Rechte der Indigenen und der Frauen standen ebenso auf der politischen Tagesordnung wie Land- und Wasserrechte und viele weitere eminent wichtige Themen, die schon seit Jahren intensiv und ununterbrochen von diversen Graswurzelorganisationen beackert worden waren. Die Menschen wählten jemanden aus ihren Reihen, keinen privilegierten Elitevertreter. Unter echter Teilhabe am demokratischen Prozess verstehen die Bolivianer etwas anderes als bloß alle paar Jahre einem Wahlaufruf zu folgen. Dieser Vergleich, und er ist beileibe nicht der einzige, wirft die Frage auf, in welchem Erdteil es Bedarf an „Demokratieförderungsprogrammen“ gibt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen besteht die Hoffnung, dass es Lateinamerika gelingen wird, einige seiner schwerwiegenden Probleme im Innern zu lösen. Die Region ist dafür berüchtigt, dass ihre Reichen außerordentlich raffgierig sind und keine soziale Verantwortung kennen. In dieser Hinsicht sind Vergleichsstudien zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas und Ostasiens erhellend. Kaum irgendwo auf der Welt herrscht größere Ungleichheit als in Lateinamerika; in Ostasien ist sie am Geringsten. So ist es auch bei der Bildung, im Gesundheitswesen und bei der Sozialfürsorge. Die Importe Lateinamerikas sind sehr stark auf die Konsumwünsche der Reichen ausgerichtet, jene Ostasiens auf produktive Investitionen. In Lateinamerika hat die Kapitalflucht ein Ausmaß, das an jenes der Schuldenlast heranreicht – eine Lösung für dieses erdrückende Problem scheint also bereits gefunden. In Ostasien wird die Kapitalflucht streng kontrolliert. Auch Auslandsinvestitionen lassen sich in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften leichter tätigen als in Asien: Nach Angeben der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) kontrollieren ausländische multinationale Konzerne in Lateinamerika seit den 1950er Jahren sehr viel größere Anteile an der industriellen Produktion als in den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern Ostasiens. Wie die Weltbank berichtete, neigten Auslandsinvestitionen und Privatisierungen in Lateinamerika andere Kapitalflüsse zu ersetzen, womit die Kontrolle abgegeben und Profite ins Ausland geschickt würden. Nicht so in Ostasien.

Unterdessen sind in Lateinamerika neue sozioökonomische Programme angelaufen, mit denen Strukturen aufgebrochen werden sollen, deren Anfänge bis zu den spanischen Eroberungen zurückreichen: Traditionsgemäß sind die lateinamerikanischen Eliten und Volkswirtschaften mit den imperialen Mächten, nicht aber miteinander verbunde. In Washington erregt dieser Wandel aus den sattsam bekannten Gründen Missfallen: Schließlich hat Lateinamerika den USA als sichere Basis für Ressourcen, Märkte und Investitionsmöglichkeiten zu dienen. Und wie die US-amerikanischen Planer nicht müde werden zu betonen: Wenn wir schon diese Hemisphäre nicht unter Kontrolle halten können, wie soll es uns dann gelingen, anderen Weltgegenden ihre Trotzhaltung abzugewöhnen?

(6. September 2006)


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