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Wie die CIA das Foltern lernte

Von Egmont Koch


Wir wissen jetzt, dass der Mensch dazu gebracht werden kann, wirklich alles zu machen… Es ist lediglich eine Frage, den richtigen Ansatz zu finden. Wenn wir genügend Schwierigkeiten in Kauf nehmen und langsam vorgehen, können wir ihn dazu bringen, seine alten Eltern umzubringen und sie als Eintopf zu verspeisen.“

Zitat aus dem Roman „Verdun“ von Jules Romains, das die CIA 1956 ihrer Studie über Foltertechniken voranstellte.


„Diese Regierung foltert nicht“, beteuerte der amtierende US-Präsident noch im Oktober 2007. Seit mehr als fünf Jahren schon wiederholt er gebetsmühlenhaft diese Behauptung, verknüpft sie mit der immer gleichen Versicherung, dass seine Administration sich an internationale Verpflichtungen halte. George Orwell hätte seine Freude gehabt am „Neusprech“ von George W. Bush. Orwell hatte 1948, unter dem Eindruck der Nazi-Diktatur uns des Stalin-Regimes, seinen beklemmenden Klassiker „1984“ geschrieben, in dem ein imaginäres totalitäres Regime die Bedeutung bestimmter Worte neu festsetzt, newspeak eben. „Folter“ zum Beispiel bedeutet im „Neusprech“ des US-Präsidenten nicht mehr „Folter“, so wie es vom Rest der Welt verstanden wird, sondern eine „kreative Verhörtechnik“, mit der Terroristen nach ihren Kenntnissen über geplante Anschläge befragt werden – unter Wahrung aller Menschenrechte selbstredend.

Die Neudefinition des Begriffs torture durch die Bush-Regierung begann im August 2002: Durch Folter erlittene physische Schmerzen müssen mehr als nur „einfache“ Schmerzen sein, sie müssen mit ernsthaften Schäden wie Organversagen oder sogar Tod einhergehen; und psychologische Schmerzen müssten irreversible seelische Schäden zur Folge haben, um als Folter gelten zu können. Viele Vernehmungsmethoden des Pentagon und der CIA würden dagegen „nicht Schmerz oder Leid in der notwendigen Intensität produzieren, um als Folter bezeichnet werden zu können“. So stand es in einem Gutachten des amerikanischen Justizministeriums für den Präsidenten. Mit anderen Worten: Was nicht körperliche und seelische Krüppel produziert oder gar zum Tod führt, fällt nicht unter die nationale Anti-Folter-Gesetzgebung.

Wer danach einen Aufschrei der Empörung erwartet hatte, im amerikanischen Kongress, unter den Ostküstenintellektuellen oder wenigstens in Blättern wie der „New York Times“ und „Washington Post“, die sich doch eigentlich der Liberalität und Aufklärung verpflichtet fühlen, sah sich enttäuscht. Ihnen hatte es die Sprache verschlagen, aber nicht angesichts der ungeheuren Dreistigkeit dieser Sprachmanipulation, sondern wegen der patriotischen Notwendigkeit, sich in Zeiten der Krise hinter den Präsidenten zu scharen. Der Angriff vom 11. September 2001 schien allen so ungeheuerlich, dass sie bereit waren, auch ungeheuerliche Gegenmaßnahmen zu akzeptieren. „Freiheit“, “Humanität“ und „Menschenrechte“, das war etwas für Schönwetterzeiten, jetzt aber herrschte Krieg gegen den Terror, und der hat seine eigenen Regeln. „Wir haben festgestellt, dass sich nur wenige Amerikaner an einer Debatte über die Rückkehr der Folter“ beteiligen wollten, die durch den Präsidenten, aber „in ihrem Namen“ durchgeführt wurde, schreibt Karen J. Greenberg vom Center on Law and Security an der New York University, die sich mit den Auswirkungen der Folterpraxis in den USA befasst hat. Die Antwort der Öffentlichkeit, so hat sie erkannt, sei „bestenfalls apathisch“ gewesen.

Mehr noch als die Apathie der Volksseele verwundert rückblickend die Argumentation, mit der auch die politische Opposition sowie Journalisten, Künstler und Wissenschaftler begannen, die Legitimität über die Legalität zu stellen. Ja, es könne Situationen geben, so ihr Tenor, in denen es zulässig sei, Menschen zu erniedrigen, zu quälen und zu töten, um das Leben anderer Menschen zu retten.

Wir kennen dies auch hierzulande von der Diskussion um den Abschuss gekaperter Zivilflugzeuge und vor allem vom Fall des ehemaligen Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner, der dem gefassten Entführer des elfjährigen Bankierssohns Jakob von Metzler Folter und Schmerzen androhen ließ, um den Aufenthaltsort des Kindes in Erfahrung zu bringen. Inzwischen hat sich auch in der deutschen Debatte der Begriff „Rettungsfolter“ etabliert. Wenn der „finale Rettungsschuss“ erlaubt ist, warum dann, als Ultima Ratio, nicht auch „finale Rettungsfolter“? Darf das Gesetz in einer Notstandssituation gebrochen werden, im Namen der Demokratie? Oder zeigt sich der wahre Charakter einer Gesellschaft erst, wenn sie solche Krisen wie den Krieg gegen den Terrorismus meistert, ohne ihre eigenen Prinzipien zu opfern?

Das Problem ist, dass es für den ultimativen Eventualfall keine klare Definition gibt oder geben kann. Ob durch die brutalen Foltermaßnahmen gegen islamistische Terrorverdächtige in den „schwarzen Löchern“ der CIA wirklich Menschenleben gerettet werden konnten, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Und die meisten Opfer amerikanischer Folter, das lässt sich heute mit Gewissheit sagen, waren entweder gänzlich unschuldig oder wenigstens keine intimen Kenner der Führungsstrukturen. Die Strafgefangenenlager in Guantánamo, in Afghanistan und im Irak gediehen prächtig, bevor sich in den USA auch nur eine ernsthafte politische Stimme erhob uns Einhalt zu gebieten versuchte. Wohin führt dieses Vorgehen des Weißen Hauses, wenn die Direktiven und Befehle so eklatant internationalen Regeln wie der Genfer Konventionen und den eigenen Gesetzen widersprechen, vom Geist der Verfassung ganz zu schweigen? In Orwells „1984“?

Die Folterbilder aus Abu Ghraib, die im Frühjahr 2004 in die Öffentlichkeit gelangten, änderten alles. Sie setzten endlich eine umfassende Diskussion in Gang. Und wieder versuchte die US-Regierung das, was längst nicht mehr zu leugnen war, in bewährter „Neusprech“ – Manier umzudefinieren: Es sei zu einem „individuellen Missbrauch von Gefangenen“ gekommen, für den die Verantwortlichen selbstverständlich zur Rechenschaft gezogen würden. Sollte nicht, kann aber passieren: Sorry we are at war!

Dabei zeigt die amerikanische Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges, dass Folter von den Geheimdiensten systematisch erforscht und betrieben wurde – lange vor dem Krieg gegen den Terror. Es gab seit Jahrzehnten so etwas wie eine „Folterkultur“ in den Vereinigten Staaten; Pentagon und CIA konnten auf langjährige Erfahrungen zurückgreifen, als ihr Präsident die Losung ausgab, es sei praktisch alles erlaubt.

Sie hatten Techniken, die zum Teil aus dem Mittelalter, zum Teil aus den Arsenalen der Gestapo und der SS stammten, die in den Verliesen der Inquisition ebenso angewandt worden waren wie in den Konzentrationslagern der Nazis, in den 50er Jahren im Kampf gegen den Kommunismus auf ihre grundlegenden psychologischen und medizinischen Prinzipien untersucht, in einem Handbuch zusammengefasst und dann vielfach in der Praxis erprobt. Zwei Fragen standen dabei im Mittelpunkt: Wie bringt man Menschen gegen ihren erklärten Willen dazu, ihr Wissen wahrheitsgemäß preiszugeben? Wie bringt man Menschen anschließenden dazu, vollständig zu vergessen, dass sie ihr Wissen wahrheitsgemäß preisgegeben haben?


Kalter Krieg um das Gehirn

Rückblende: Im Frühjahr 1953 tobte auf der koreanischen Halbinsel ein erbitterter Krieg. Seit drei Jahren schon standen sich Truppen der Vereinten Nationen (Südkorea, USA, Großbritannien, Kanada, Australien) und Kommunisten (Nordkorea, China und Sowjetunion) gegenüber, je eine Million Soldaten auf beiden Seiten. Es ist die lange erwartete erste militärische Konfrontation zwischen den neuen Blöcken nach 1945 und der Beginn eines Krieges der Ideologien: Unterdrückung gegen Freiheit, Einheitspartei und ideologische Diktatur gegen Pluralismus und Demokratie. Die beiden Gegner des Koreakrieges wurden später, ganz entgegen ihren jeweiligen moralischen Ansprüchen, schwerster Kriegsverbrechen beschuldigt: Die nordkoreanischen Streitkräfte und ihre chinesischen Verbündeten hatten wahllos verdächtige Zivilisten und Regimegegner niedergemetzelt und vielerorts verbrannte Erde hinterlassen, aber auch von den US-Truppen waren barbarische Massaker unter Flüchtlingen verübt worden.

Vergl. Allan R. Millet, Korean War: The Essential Bibliography, Washington 2007; Rolf Steiniger, Der vergessene Krieg, München 2006.

Am 10. April 1953 hielt Allen W. Dulles, der sechs Wochen zuvor zum neuen CIA-Chef und Direktor aller US-Geheimdienste (DCI) ernannte worden war, eine Rede vor ehemaligen Studenten der Eliteuniversität Princeton. Sein Thema war mehr als ungewöhnlich: „Brain Warfare“ – Der Krieg um das Gehirn. Der Ort war mit Bedacht gewählt worden. Eine Rede in Princeton konnte für den Ostküstenintellektuellen mit randloser Brille und Pfeife als „Heimspiel“ gelten. Dort hatte er Jura studiert, ehe er in eine renommierte Anwaltskanzlei in der Wall Street eingetreten war. Im Zweiten Weltkrieg hatte Dulles eine wichtige Rolle an der geheimen Front gespielt, als Resident des US-Geheimdienstes und CIA-Vorläufers OSS in der Schweiz, wo er Kontakt zu Widerstandskämpfern des Hitler-Regimes hielt, darunter zu einem Mitverschwörer des 20. Juli 1944. Der neue DCI stammte aus einer der angesehensten Politdynastien der Vereinigten Staaten : Schon sein Großvater John W. Foster war amerikanischer Außenminister gewesen, inzwischen bekleidete sein Bruder John Foster Dulles dieses Amt.

Dulles beschrieb in seinem Vortrag ein wissenschaftliches und medizinisches Forschungsprogramm der CIA: In der Sowjetunion, in China und deren Satellitenstaaten wie Nordkorea, so der CIA-Direktor, laufe ein ungeheures Experiment ab, das man nur als „Gehirnwäsche“ bezeichnen könne. Wie brachten sie amerikanische Kriegsgefangene dazu, gegen ihren Willen Informationen preiszugeben? Oder Lügen über den Einsatz biologischer Waffen zu verbreiten? War es dem Feind in klandestinen Techniken gelungen, das menschliche Bewusstsein zu knacken? „Wir im Westen“ fuhr der CIA-Chef in seinen Ausführungen fort, „sind ziemlich schlecht dran“, denn die Kommunisten nähmen ihre Menschenversuche an „politischen Häftlingen, Insassen von Arbeitslagern und, am schlimmsten, an unseren Soldaten vor“, die freiheitliche Welt dagegen könne „ die außergewöhnlichen Techniken“ selbstverständlich nicht an „menschlichen Meerschweinchen“ erproben.

Allen W. Dulles, Brain Warfare – Summary Remarks At The National Alumni Conference, Princeton University, 10.4.1953; John Ranelagh, The Agency, New York 1987; Richard Harris Smith, OSS – The Secret History of America´s First Central Intelligence Agency, Berkeley 2005.

Tatsächlich lief zu jener Zeit schon ein umfassendes CIA-Programm, das sich seit einigen Jahren mit den kommunistischen Methoden der psychologischen Folter beschäftigte und diese Techniken wissenschaftlich unter die Lupe nahm: zunächst in defensiver Absicht, um US-Soldaten besser auf prekäre Situationen in Gefangenschaft vorbereiten zu können, dann auch offensiv. Genau drei Jahre später, am 25. April 1956, ließ Dulles die wichtigsten Erkenntnisse der intensiven CIA-Forschung in einem Zwischenbericht zusammenfassen. Die Techniken der Kommunisten, „mit denen sich völlige Kontrolle über Menschen gewinnen lässt“, so hieß es da, seien „furchterregend“; das sei schlimmste Folter „und sollte auch als nichts anderes bezeichnet werden“. Dulles ließ die Untersuchungen gleich an J. Edgar Hoover, den Direktor des FBI, weiterleiten, einen „Kommunistenfresser“ und Bruder im Geiste, zusammen mit einem Begleitschreiben: „ Die Studie über Gehirnwäsche wurde von meinen Leuten geschrieben, als Antwort auf das wachsende Interesse quer durch alle Geheimdienst- und Sicherheitsorgane der Regierung…Sie beinhaltet die Erkenntnisse führender Psychologen, Psychiater und Geheimdienstexperten und beruht sowohl auf Gesprächen mit Opfern, die über persönliche Erfahrungen mit kommunistischer Gehirnwäsche verfügen, als auch auf umfangreichen eigenen Forschungen und Experimenten“.

Allen W. Dulles, Memorandum for J. Edgar Hoover, Subjekt: Brainwashing, CIA Haedquarters, 25.4.1956, CIA-Case Number F-1982-00423; Communist Control Techniques – An Analysis of the Methods Used by Communist State Police, 2.4.1956.

Die knapp 100seitige CIA-Studie aus dem Jahre 1956 liest sich heute wie ein Masterplan für Foltermethoden in Abu Ghraib, Guantánamo und anderen CIA-Gefängnissen.


Das immergleiche Arsenal

Am Anfang stehen fast immer Nacktheit und Isolation. Jeder neue Gefangene wird erst seiner vertrauten Kleidung, danach jeden Kontaktes mit der Außenwelt und engerer Umgebung beraubt. Ein Vertreter des Militärgeheimdienstes in Abu Ghraib, dessen Identität sich später nicht mehr ermitteln ließ, hatte am 15. September 2003 – nur 24 Stunden nachdem das volle Folterprogramm angelaufen war – einen Gefangenen in verschärfte Isolationshaft genommen. Schon eine Zelle ohne Sicht nach draußen gilt als eine sehr effiziente Methode, Inhaftierte mürbe und gefügig zu machen. Sie lässt sich noch dadurch steigern, dass ihr Kopf in einen Plastiksack gesteckt wird, um sie orientierungslos zu machen. In Abu Ghraib verwendet die Militärpolizei dafür penetrant riechende Sandsäcke aus Plastik. Künstliche „Blindheit“ („hooding“), verbunden mit der Fixierung der Hände, so dass die Gefangenen ihre Umgebung nicht „erfühlen“ können, wird als „sensorische Deprivation“ bezeichnet: die fast vollständige Verweigerung optischer und taktiler Sinneseindrücke.

Über die Auswirkungen der Isolation auf die menschliche Psyche besaßen die CIA-Experten schon 1956 genaue Erkenntnisse: „Der Mensch ist ein soziales Wesen…Seine Beziehungen zu anderen Menschen… sind fast so bedeutend wie Essen und Trinken. Wer das erste Mal totaler Isolation ausgesetzt ist, entwickelt vorhersehbare Symptome…Nach verschiedenen Zwischenstadien wird er hochgradig ängstlich, hoffnungslos, entmutigt und völlig unsicher über seine Zukunft…Er leidet unter Albträumen und Halluzinationen… Die Wärter sagen, ein solcher Gefangener vegetiere nur noch wie ein Tier… Am Ende erreicht er ein Stadium tiefer Depression… Er hat nur noch den Wunsch; mit irgendjemand über irgendetwas zu reden.“

Brainwashing from a Physiological Viewpoint, Central Intelligence Agency, Februar 1956, Case Number F-1982-00423.

Darüber hinaus wussten die Folterexperten der CIA, dass erzwungenes Stehen – eine beliebte Foltermethode sowohl der SS in den Konzentrationslagern Nazi-Deutschlands („Strafapell“) als auch der Sowjets und der Chinesen – eine besonders perfide Technik ist, weil der Aufseher nicht gezwungen ist, in irgendeiner Form Hand an das Opfer legen zu müssen. Der Gefangene fügt sich die Schmerzen gewissermaßen selbst zu. Stunden- oder gar tagelanges Stehen führt nicht nur zu Höllenqualen, sondern hat über kurz oder lang den Zusammenbruch des Kreislaufsystems und der Organfunktionen zur Folge. Man kann sich „zu Tode stehen“, wie die CIA schon 1956 festhielt: „(Es) kommt zu einer Ansammlung von Flüssigkeit in den Beinen. Die Gelenke und die Füße schwellen auf die doppelte Größe an. Die Haut wird extrem empfindlich und schmerzhaft. Es bilden sich Ödeme und große Blasen, die aufplatzen und Flüssigkeit freisetzen…Der Herzschlag steigt an, es kann zu Ohnmacht kommen. Dann versagen die Nieren, das Blut wird nicht mehr gereinigt, der Gefangene ist durstig, aber alle Flüssigkeit, die er zu sich nimmt, wird nicht ausgeschieden, sondern verschlimmert weiter die Ödeme in seinen Beinen. Am Ende kommt es zu einer Psychose, verursacht durch Kreislaufstörungen, Schlafentzug und Blutvergiftung…Perioden langen Stehens werden von Zeit zu Zeit durch Verhöre unterbrochen, in denen der Vernehmer dem Gefangenen klarmacht, dass es für ihn leicht wäre, seine Qualen zu beenden, wenn er kooperieren würde.


Gewalt und Erniedrigung

Neben dem erzwungenen Stehen gibt es andere „Stresspositionen“, wie etwa schmerzhafte Verrenkungen, beispielsweise das Fixieren der Handschellen an einem Bettgestell, manchmal auch an den hinter dem Rücken gefesselten Händen. Auch hier lässt die CIA-Studie von 1956 keine Zweifel an den Folgen: „Jede fixierte Position, die über eine lange Zeit erzwungen wird, führt zwangsläufig zu höllischen Schmerzen… Früher oder später bricht jeder wegen Kreislaufversagens zusammen.“

Eine weitere Methode damals wie heute sind Temperaturschocks. Kalte Wasserschauer zum Beispiel gehören zum Standardrepertoire. Das klingt zuerst harmlos – wie soll eine kalte Dusche Schaden zufügen? Tatsache ist, dass Kälte sehr schnell zu Unterkühlung führen kann. Von den Sowjets, Chinesen und Nordkoreanern hatten die CIA-Folterexperten das schon 1956 gelernt ; „Eine einfache und effektive Methode, den psychischen Druck zu erhöhen, ist es, die Temperatur in der Zelle entweder zu hoch oder zu niedrig zu halten.“

In Washington haben sie diese Methoden euphemistisch als „Manipulation der Umweltbedingungen“ für Gefangene definiert, wobei diese oft zwischen den Extremen wechseln sollten: grelles Licht und absolute Finsternis, unerträgliche Hitze und eisige Kälte, lautes Musikgeplärre und vollkommene Stille.

Temperaturschocks durch kaltes Wasser zählten zu jenen Foltermethoden der Kommunisten, die Anfang der 50er Jahre von der CIA erprobt und erforscht wurde, um für die erwartete große kriegerische Auseinandersetzung mit dem Ostblock gewappnet zu sein . Auch in Deutschland: Im US-Militärgefängnis in Mannheim, das in einem Seitenflügel deds Schlosses untergebracht war, wurden amerikanische Soldaten, die sich wegen kleiner Diebstähle oder sonstiger Vergehen strafbar gemacht hatten, brutal gequält. Die Schreie waren von dem Zellentrakt bis in die Büros zu hören. Margot Raumer, die zwischen Ende 1951 und März 1953 als deutsche Zivilangestellte im europäischen Militärgefängnis der US Army angestellt war, berichtete ihrem Mann damals fast jeden Abend von den Folterungen. Als sie ihre US-Kollegen danach gefragt habe, sei ihr hinter vorgehaltener Hand von den verschiedenen Techniken erzählt worden, die angewendet wurden, erinnert sich Lutz Raumer.

Schreiben des USAREUR Military Prison Mannheim, 26.3. 1953; Lutz Raumer, Alte Folterpraxis, in „Süddeutsche Zeitung“ 19.10.2006; E-Mail von Lutz Raumer vom 24.10.2006.

Die Soldaten standen da mit Schläuchen und haben kaltes Wasser in die Zellen gespritzt. Das Wasser sammelte sich in einer Betonwanne, in der die Gefangenen stunden- oder gar tagelang stehen bleiben mussten… Außerdem wurden sie mit Strahlern die ganze Nacht geblendet, Essensentzug war eine gängige Praxis und auch das Schlagen mit Baseballschlägern.“

Interview mit Lutz Raumer, in Betrifft: Folterexperten, SWR, 9.7.2007.

Dies alles waren Methoden, die auch 50 Jahre später in Abu Ghraib zum Einsatz kamen: Kälteschock, langes Stehen, grelles Licht, Essensentzug und Schläge. Diese Maßnahmen waren schon in der CIA-Studie von 1956 nicht wesentlich anders formuliert worden. Dort wird indes die gängige Praxis in der Sowjetunion analysiert, „die von nahezu allen kommunistischen Ländern übernommen worden“ sei: „Der Gefangene wird in einer Zelle total von der Umwelt isoliert… Ihm wird die Kleidung weggenommen… Er muss den ganzen Tag in einer fixierten, rigiden Position stehen oder sitzen. Er darf nur wenige Stunden schlafen… Das Li9cht in der Zelle brennt die ganze Zeit… Die Temperatur wird verändert, so dass es entweder zu kalt oder zu heiß ist… Er hat Angstzustände, Depressionen… Irgendwann wird er begierig sein, sich dem Vernehmer zu offenbaren, um seiner unerträglichen Situation entfliehen zu können.“

Brainwashing from a Physiological Viewpoint, a.a.O.


Was die CIA 1956 im Auftrag von Allen W. Dulles über Foltertechniken der kommunistischen Geheimdienste zusammentrug, wurde fast 50 Jahre später in Abu Ghraib und Guantánamo mit erschreckender Entschlossenheit angewandt. Doch nicht erst die kommunistischen Regime hatten der CIA diese Kenntnisse beigebracht. Die verfügbaren Dokumente zeigen vielmehr, dass die Geschichte der Aneignung von Folterpraktiken bereits ein Jahrzehnt zuvor begonnen hatte – nämlich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.


Folter in Dachau

Ende April 1945, nur wenige Wochen nach der Übernahme des Dulag Luft in Oberursel, befreiten die Truppen der 7. US Army das Konzentrationslager Dachau, 15 Kilometer nordwestlich von München. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens. In 50 Güterwagen lagen übereinandergestapelt die Leichen von Hunderter Opfer aus anderen KZs, die schon vorher geräumt worden waren. Typhus und Fleckfieber grassierten auf dem Gelände der ehemaligen Munitionsfabrik in Dachau.

Etwa 2000 bis auf die Knochen abgemagerte Häftlinge empfingen die US-Soldaten mit Jubelschreien und Freudentränen. Endlich hatte ihr Martyrium ein Ende gefunden. Das Konzentrationslager Dachau war im März 1933 erreichtet worden. Bei den ersten Häftlingen hatte es sich um politische Gegner des NS-Regimes gehandelt, vornehmlich Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter; später kamen Juden, Sinti und Roma hinzu. Die Aufnahmekapazität wurde durch den Bau neuer Baracken und Mehrfachbelegungen von Schlafverschlägen ständig in die Höhe getrieben, von 5000 Gefangenen bei der Eröffnung bis auf 67 000 Internierte am Ende.

Enzyklopädie des Holocaust, München 1995; Barbara Distel und Wolfgang Benz, Das Konzentrationslager Dachau 1933 bis 1945, Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 2006.


Von den Überlebenden erfuhren die amerikanischen Offiziere viele Details über das Lagerleben, die Straf- und Foltermaßnahmen der SS und die medizinischen Experimente der KZ-Ärzte. Viele Unterlagen über die Menschenversuche waren offenbar Tage vor der Befreiung Dachaus von der SS verbrannt worden, so dass sich die Aussagen von Augenzeugen als besonders wichtig erwiesen. Das Pentagon schickte sofort mehrere Experten in das Lager, um von den Überlebenden möglichst viele Details zu erfahren, solange die Erinnerungen noch frisch waren. Es galt, die Prozesse gegen das verantwortliche SS-Personal und die KZ-Mediziner vorzubereiten.

Zu den häufigsten Strafen in Dachau gehörte neben brutaler Prügel mit dem „Ochsenziemer“ zwei Methoden, die allein durch die Dauer ihrer Anwendung zu unerträglichen Schmerzen führte, ohne dass einer der SS-Aufseher sich dafür die Hände schmutzig machen musste: Der Häftling wurde an den vor oder hinter dem Körper gefesselten Händen einen Baum oder Pfahl hochgezogen, so, dass seine Füße nicht mehr den Boden berührten; er musste dann stundenlang in dieser Lage hängen („Baum- oder Pfahlhängen“).

Bei der anderen Foltertechnik handelte es sich um den sogenannten Strafappell. „Zählappelle“ waren üblich. Zweimal pro Tag mussten sich sämtliche Gefangene in Reih und Glied auf dem Appellplatz aufstellen, um sich zählen zu lassen. Fehlte einer, mussten die anderen so lange stehen bleiben bis, bis der Häftling gefunden wurde. Als es im Januar 1939 einem Insassen gelungen war, aus dem KZ zu entfliehen, ließ die SS-Wachmannschaft alle Gefangenen eine ganze Winternacht über dem Appellplatz stehen; wer zusammenbrach, durfte nicht angerührt werden und drohte zu erfrieren. Die Stehfolter, denn nichts anderes war der Strafappell, ging noch darüber hinaus und betraf einzelne Häftlinge. Sie waren gezwungen, stunden- , mitunter tagelang bei jeder Witterung unbeweglich auf dem Appellplatz auszuharren. Viele kollabierten, weil ihr Kreislauf versagte.

Vgl. auch Michaela Haibl, Baumhängen, in: „Dachauer Hefte“, 1998

Ein Internierter wurde in den Duschsaal geführt und mit auf dem Rücken gefesselten Händen zwei Stunden aufgehängt. Während dieser Zeit wurde er ins Gesicht und auf den ganzen Körper heftig mit dem Ochsenziemer geschlagen…, und er wurde gezwungen, von 10 Uhr morgens bis zum nächsten Tag um 7 Uhr stramm zu stehen.

Konzentrationslager, Dokument F321 für den Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg; Eugène Aroneanu, Konzentrationslager: Tatsachenbericht über die an der Menschheit gegangenen Verbrechen, Baden-Baden 1947.


Wie sind die Ähnlichkeiten solcher Aussagen, die nahezu deckungsgleich auch aus anderen Konzentrationslagern vorliegen, mit den Schilderungen der Gefangenen in Guantánamo und Abu Ghraib zu erklären? Ist das Zufall? Oder lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen den Foltertechniken der SS und denen der amerikanischen Geheimdienste 60 Jahre später?

Man kann davon ausgehen, dass diese Techniken ebenso wenig von der CIA erfunden wurden wie von der SS. Denkbar wäre aber, dass die amerikanischen Folterknechte nach Analyse der Folterpraktiken in den Konzentrationslagern Nazi-Deutschlands erstmal das Prinzip hinter Stresspositionen und Stehfolter erkannten und sie deshalb gezielt für sich nutzbar machen wollten: Das Opfer fügt sich seine Schmerzen selbst zu („self-inflicted pain“). Der Psychiater Dr. Leo Alexander aus Boston, der als Berater des amerikanischen Kriegsministeriums für das Combined Intelligence Objectives Subcommittee (CIOS) eine Auswertung der medizinischen KZ-Versuche vornahm. Dachau stand dabei im Mittelpunkt seiner Untersuchung, die sofort auf das Interesse des US Navy Department stieß. Alexanders CIOS-Report war, aus heutiger Sicht, die Geburtsstunde amerikanischer Folterforschung.

Dass dabei ausgerechnet die Kriegsmarine zur Hebamme wurde, ist keineswegs zufällig: Die Navy besaß nicht nur eine eigene Geheimdienstabteilung, sondern auch eigene Forschungsprogramme. Die US Naval Technical Mission in Europa schickte sofort eine zweite Ermittlungstruppe nach Dachau. Deren Hauptaugenmerk galt den Experimenten des deutschen KZ-Arztes r. Sigmund Rascher, mochte deren Ansatz auch noch so wissenschaftlich abstrus wie moralisch verwerflich erscheinen.

Leo Alexander, Treatment of shock from prolonged exposure to cold, especially in water, CIOS item Nr. 24 Juli/August 1945.


Die Karriere eines deutschen Arztes

NSDAP-Mitglied Rascher war im Jahr 1941 als junger ehrgeiziger Arzt in die medizinische Höhenflugforschung eingestiegen – nach Protektion durch Heinrich Himmler, mit dem seine Frau bekannt war. Gleich in seinem ersten Ersuchen fragte er beim „Reichsführer-SS“ an, ob „zwei oder drei Berufsverbrecher… von Ihnen zur Verfügung gestellt werden können… für diese Versuche, bei denen selbstverständlich die Versuchspersonen sterben können“. Alternativ könnten allerdings „auch Schwachsinnige Verwendung finden“. Später hatte SS-Hauptsturmführer Rascher seine Menschenversuche erweitert, um herauszufinden, wie lange über dem Meer abgeschossene Piloten der Luftwaffe in eisiger Kälte überleben können. Dafür griff der KZ-Arzt in Dachau bei „terminalen Versuchen“, die oft mit dem Tod endeten, auf russische oder polnische Kriegsgefangene zurück. Sied wurden gezwungen, in große Wannen mit bis auf 2.5 Grad Celsius abgekühltem Wasser zu steigen. Dann wartete Rascher und seine Assistenten, bis ihre Versuchspersonen erstarrten, was allerdings selten ohne Widerstand der Opfer abging. Leider „brüllen“ die Probanden, „wenn sie sehr frieren“, ließ der sadistische Mediziner später seinen Fürsprecher Himmler an den Erfahrungen teilhaben. Die Unterkühlungstemperaturen, durch ein Thermometer im After gemessen, wurden säuberlich in ein Versuchsprotokoll eingetragen. Unter 28 Grad Celsius Körpertemperatur, so lautete einer seiner Einträge, starb der Häftling „mit Sicherheit, trotz aller Versuche zur Rettung“. Etwa 50 bis 60 Kriegsgefangene durchliefen innerhalb weniger Wochen Raschers erste „Kälteserie“, rund ein Drittel schaffte es nicht, wieder ins Leben zurückzukehren.

Es folgten weitere Versuchsreihen, mit denen Rascher seine Habilitation vorantrieb, immer unterstützt von Himmler. Von dem kam irgendwann die Rückmeldung, es wäre doch wissenschaftlich interessant herauszufinden, ob „eine Fischersfrau ihren geretteten halb erfrorenen Mann einfach in ihr Bett“ nähme und so aufwärme. Dazu wurden vier „Bordelldirnen“ aus dem KZ Ravensbrück nach Dachau verlegt, und der „Reichsführer-SS“ ließ sich das Experiment dann auch persönlich vorführen.

Im März 1944 kam es zu einem Zusammenbruch nicht nur der Karriere Raschers, sondern seines gesamten Lebens. Seine Frau wurde überführt, mehrere Schwangerschaften vorgetäuscht, Kinder geraubt und diese dann als ihre eigenen ausgegeben zu haben. Rascher wollte davon nichts mitbekommen haben. Himmler tobte, schloss ihn aus der SS aus und ließ ihn und seine Frau ins KZ stecken. Am Nachmittag des 26. April 1945, drei Tage vor der Befreiung durch US-Truppen, wurde der ehemalige KZ-Arzt von Dachau ebendort, an der Stätte seiner verbrecherischen Menschenversuche, auf Befehl Himmlers per Genickschuss getötet.

Wolfgang Benz, Dr.med. Sigmund Rascher – Eine Karriere, in „Dachauer Hefte“, 4/1988; Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt a.M. 2004; Schreiben Reichsluftfahrtministerium an Reichsführer SS vom 8.10.42, Bundesarchiv NO 286; Zwischenbericht Rascher vom 10.9.42, Bundesarchiv PS 1618; Erlebnisbericht Walter Neff, Bundesarchiv NO 908/58; Schreiben Rascher an Reichsführer SS Himmler vom 17.2.1943, Bundesarchiv PS 1616.S

Schon im Oktober 1945 legte die US Naval Technical Mission einen 300-Seiten-Bericht über Raschers grausame Höhen- und Kälteversuche vor, für den Lt. Comdr. A.H. Andrews Jr. Von der Forschungsabteilung der Navy verantwortlich zeichnete. War alles in Dachau nur sadistische Scharlatanerie? Oder ließ sich doch irgendein Nutzen aus den Experimenten gewinnen? In seiner Einführung geht Andrews auf diese Wiedersprüche kurz ein: „Eine angemessene Auswertung der Erkenntnisse könnte das gegenwärtige Wissen der Physiologen erweitern und durch dessen praktische Anwendung Leben retten. Dieser Report soll nicht in irgendeiner Form die Verstöße gegen den Hippokratischen Eid und die Verhöhnung der Prinzipien der Menschlichkeit entschuldigen, zu denen es im Verlauf der Forschungen kam. ES gibt nach unserer Einschätzung eine moralische Verpflichtung, alle Informationen zu nutzen, die durch den Tod oder das Leiden von Gefangenen gewonnen wurden.“

U.S. Naval Technical Mission in Europe, German aviation medical research at the Dachau Concentration Camp, Technical report No.331-45, Oktober 1945; Report on Aviation Medical Research at Dachau Concentration Camp, prepared by Lt.Comdr. A.H. Andrews, Navy Department, 30.11.1945; Schreiben Navy Department an Officer Counsel for the Prosecution of Axis Criminality, Suvject: Aviation NMedical Research at Dachau Concentration Camp, 21.11.1945.

Andrews Auswertung der Menschenversuche im KZ Dachau wurde in US-Regierungsbehörden gezielt verteilt – ebenso unter den wissenschaftlichen Beratern des Pentagon in den Renommier-Universitäten und sogar in einigen Industrieunternehmen. Das Physiologische Labor der Yale University bedankte sich emphatisch, man sei „sehr glücklich, diese Kopie zu haben“, denn Raschers Forschungsergebnisse „passen zu den eigenen Erkenntnissen“; und die Forschungsabteilung des Medizinkonzerns Searle & Co. In Chicago schrieb, die „umfassenden medizinischen Experimente im Konzentrationslager Dachau“ könnten sich als von „unschätzbarem medizinischem Wert“ erweisen. Dabei ging es um die Blutgerinnungsmittel Styptoral und Polygal, zwei aus Zuckerüben gewonnene Gelierstoffe (Pektin), die den Blutverlust durch offene Wunden verlangsamen sollten und deshalb in Dachau an Kriegsgefangenen getestet worden waren.

Schreiben Yale University School of Medicine vom 21.7.1947; Schreiben Searle & Co. vom 2.5.1946

Dem Russen wurde durch einen auf einem Stuhl stehenden SS-Mann von rechts oben in die rechte Schulter geschossen. Der Schuss kam in der Nähe der Milz heraus. Es war beschrieben, dass der Russe zusammenzuckte und sich dann auf einen Stuhl setzte und nach etwa 20 Minuten starb. Im Sektionsprotokoll wurden die Zerreißung der Lungengefäße und der Aorta beschrieben. Es wurde ferner beschrieben, dass die Zerreißung durch harte Blutgerinnsel tamponiert waren. Nur so sei die verhältnismäßig lange Lebensdauer nach dem Schuss zu erklären.“

Eidesstattliche Erklärung von Fritz Rascher (dem Onkel von Sigmund Rascher) vom 31.12.1946, Nürnberger Dokument NO-1424; Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt a.M. 2004.


Malaria und Meskalin

Die Ergebnisse von Raschers Drogenexperimenten stießen dagegen auf das Interesse der Harvard Medical School in Boston. Nach Raschers Verhaftung im März 1944 hatte SS-Hauptsturmführer Dr.med. Kurt Plötner die Menschenversuche weitergeführt, sich dabei auf Malaria (bei denen ahnungslose KZ-Häftlinge mit den Erregern infiziert wurden, um neue Anti-Malaria-Präparate zu testen) und Meskalin konzentriert. Aber PLötner war nach Kriegsende untergetaucht und konnte daher nicht von Navy-Fachmann Andrews befragt werden; die amerikanische Militärregierung suchte ihn in der Gegend um Leipzig, weil er früher an der dortigen Universität gelehrt hatte. Tatsächlich hielt sich der Rascher-Nachfolger jedoch unter dem Allerweltsnamen „Kurt Schmidt“ in Norddeutschland versteckt und stieg Jahre später, als die Amerikaner längst jedes Interesse an ihm verloren hatten, erst zum Assistenten, dann zum außerordentlichen Professor an der Universitätsklinik Freiburg auf.

War Crimes Group, Case 707, US Army, Haftbefehl, 27.12.1946, NARA Records of Army Staff, RG 319, Box 540; Auslieferungsersuchen Deputy Theater Judge Advocate for War Crimes aus der sowjetischen Besatzungszone, Case 707, Dr. Kurt Plotner, 26.11.1946, NARA Recors of Army Sraff, RG 319, Box 540; persönliche Mitteilung Prof. Dr. med Stanislaw Sterkowicz, Wloclawek, 1.1. und 20.1.2007.

Meskalin ist ein Wirkstoff aus dem mexikanischen Pejote-Kaktus, der die Zunge löst und zu Halluzinationen führt. Plötner nahm die Experimente mit der synthetisch hergestellten Droge im Auftrag der Gestapo vor, die sich davon ein wirksames Verhörwerkzeug versprach. Die Versuche fanden erst in Block 21 des KZ Auschwitz statt, dann in Dachau. Häftlinge sollten mit der ihnen ohne ihr Wissen verabreichten Substanz gezwungen werden, Geheimnisse zu verraten, gegen ihren erklärten Willen. Lt. Comdr. Andrews schrieb in seiner Auswertung von PLötners Versuchen, es sei zwar „selbst bei höchster Dosierung von Meskalin nicht möglich“, der Versuchsperson einen fremden Willen aufzuzwingen, andererseits hätten die Vernehmer „in jedem der Fälle erfolgreich selbst die intimsten Geheimnisse aus den Probanden herausgeholt… wenn die Fragen clever gestellt“ worden seien.

Die Gestapo gab es nicht mehr. Aber es gab die Sowjetunion, die längst als der neue große Feind galt. Wenn sich Plötner tatsächlich nach Leipzig abgesetzt hätte und dort in die Hände der sowjetischen Besatzer gefallen wäre, würde der russische Geheimdienst schon bald Meskalin einsetzen, womöglich in einem zukünftigen Konflikt auch gegen amerikanische Soldaten. Eine Droge, mit der sich die Zunge des Gefangenen viele Hundert mal stärker lösen lässt als mit Alkohol, ein Mittel also, mit der geschickte Verhörer auch die größten Geheimnisse aus ihren Opfern herausholen können – eine solche Perspektive schien das US-Kriegsministerium aber nicht nur zu beunruhigen, sondern auch zu elektrisieren. Für den eigenen Einsatz: Es leitete den Andrews-Bericht an einen seiner Neuropharmakologen an der Harvard Medical School in Boston: Dr. Henry K. Beecher. Er sollte die Meskalin-Versuche noch einmal unter die Lupe nehmen. Vielleicht könnte er um sicherzugehen, die Versuche wiederholen oder fortsetzen, um für eine „chemische Folter“ im Arsenal der Sowjets gewappnet zu sein und um sie selbst als offensive Methode einsetzen zu können – gegen den neuen Feind.

Vgl. das Schreiben Medical Intelligence Branch, War Department vom 7.2.1947 an Dr. Henry K. Beecher.


Egmont R. Koch ist Schriftsteller und investigativer Journalist, unter anderem für ARD und ZDF. Der Beitrag basiert auf seinem neuen Buch, Die CIA-Lüge. Folter im Namen der Demokratie, Berlin 2008, Aufbauverlag.

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