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Klimakriege

von Harald Welzer


Ein leises Klirren hinter mir ließ mich den Kopf drehen. Sechs Schwarze gingen hintereinander und quälten sich den Pfad hinauf. Sie schritten aufrecht und langsam, balancierten kleine Körbe mit Erde auf dem Kopf, und das Klirren begleitete jeden Schritt…Ich konnte ihre Rippen zählen, die Gelenke ihrer Glieder waren wie Knoten in einem Strick; jeder trug ein Halseisen, und alle waren mit einer Kette verbunden, deren gleichmäßig klirrende Glieder zwischen ihnen hingen.“

Diese Szene, die Joseph Conrad in seinem Buch „Herz der Finsternis“ beschreibt, spielt zur Blütezeit des europäischen Kolonialismus vor etwas mehr als hundert Jahren.

Die gnadenlose Brutalität, mit der die frühindustrialisierten Länder damals ihren Hunger nach Rohstoffen, nach Land und nach Macht zu befriedigen suchten und die den Kontinenten ihre Signatur aufprägten, ist den heutigen Verhältnissen in westlichen Ländern nicht mehr abzulesen. Die Erinnerung an Ausbeutung, Sklaverei und Vernichtung ist einer demokratischen Amnesie zum Opfer gefallen, als seien die Staaten des Westens immer schon so gewesen wie jetzt, obwohl ihr Reichtum wie ihr Machtvorsprung auf eine mörderische Geschichte gebaut ist.

Stattdessen ist man stolz auf die Erfindung, Einhaltung und Verteidigung der Menschenrechte, praktiziert political correctness, engagiert sich humanitär, wenn irgendwo in Afrika oder Asien ein Bürgerkrieg, eine Überschwemmung oder Dürre den Menschen die Überlebensgrundlage nimmt. Man beschließt militärische Interventionen, um die Demokratie zu verbreiten, und übersieht dabei, dass die meisten westlichen Demokratien auf einer Geschichte von Ausgrenzung, ethnischer Säuberung, und Völkermord beruhen. Während sich die asymmetrische Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts in den Luxus der Lebensumstände in den westlichen Gesellschaften eingeschrieben hat, tragen viele Länder der „Zweiten“ und „Dritten Welt“ schwer an der Geschichte, die sie damals mit Gewalt überkam: Nicht wenige postkolonialen Länder haben es niemals zu stabiler Staatlichkeit, geschweige denn zu Wohlstand gebracht; in vielen Staaten wurde die Ausbeutungsgeschichte unter veränderten Vorzeichen fortgeschrieben, und in zahlreichen fragilen Gesellschaften stehen heute die Zeichen nicht auf Besserung, sondern auf weiteren Abstieg. Die Klimaerwärmung, das Ergebnis unstillbaren Hungers nach fossiler Energie in den frühindustrialisierten Ländern, trifft die ärmsten Regionen der Welt am härtesten; eine bittere Ironie, die jeder Erwartung Hohn spricht, dass das Leben gerecht sei.

Das westliche Gesellschaftsmodell, so gnadenlos erfolgreich es ein Vierteljahrtausend lang war, kommt nun, in dem Augenblick, wo sein Siegeszug global wird und selbst kommunistische und gerade noch kommunistisch gewesenen Länder in den Attraktionsrausch eines Lebensstandards mit Auto, Flat-Screen und Fernreise gezogen hat, an eine Grenze des Funktionierens, mit der in dieser Konsequenz kaum jemand gerechnet hätte. Die Emissionen, die der Energiehunger der Industrie- und immer mehr auch der Schwellenländer produziert, drohen das Klima aus dem Takt zu bringen. Die Folgen sind jetzt schon sichtbar, für die Zukunft aber unabsehbar; gewiss ist nur, dass die schrankenlose Vernutzung fossiler Energie nicht endlos weitergehen kann, und dass dieses Ende nicht, wie lange Zeit angenommen, primär vom Versiegen der Ressourcen diktiert ist, sondern von der Unbeherrschbarkeit der Folgen ihres Verbrennens.

Aber nicht nur, weil die Klimawirkungen der emittierten Schadstoffe ab einem Schwellenwert der Erwärmung um etwa zwei Grad nicht mehr kontrollierbar sein werden, kommt das westliche Modell an seine Grenzen, sondern auch, weil eine globalisierte Wirtschaftsform, die auf Wachstum und Ausbeutung von Naturressourcen setzt, als weltweites Prinzip nicht funktionieren kann. Denn logisch funktioniert sie nur dann, wenn Macht sich an einer Stelle der Welt akkumuliert und an einer anderen Stelle angewendet wird; ihr Wesen ist partikularistisch, nicht universal – nicht alle können sich gegenseitig ausbeuten. Da die Astronomie noch keine kolonisierbaren Planeten in Reichweite anbieten kann, kommt man auf die ernüchternde Feststellung nicht herum, dass die Erde eine Insel ist. Man kann nicht weiterziehen, wenn das Land abgegrast und die Rohstofffelder abgebaut sind.

Da nun aber die Überlebensressourcen schwinden, zumindest in manchen Regionen Afrikas, Asiens, Osteuropas, Südamerikas, der Arktis und der Inselstaaten im Pazifik, wird das Problem auftreten, dass immer mehr Menschen immer weniger Grundlagen zur Sicherung ihres Überlebens vorfinden. Es liegt auf der Hand, dass dies zu Gewaltkonflikten zwischen denen führt, die sich von ein und demselben Stück Land ernähren oder4 aus derselben verrinnenden Wasserquelle trinken wollen, und genauso liegt es auf der Hand, dass man in absehbarer Zeit Umwelt- und Kriegsflüchtlinge nicht mehr sinnvoll voneinander unterscheiden können wird, weil neue Kriege umweltbedingt entstehen und Menschen vor der Gewalt fliehen. Da sie irgendwo bleiben müssen, entwickeln sich weitere Gewaltquellen – in den Ländern selbst, in denen man nicht weiß, wo man hin soll mit den Binnenflüchtlingen, oder an den Grenzen der Länder, in die sie hineinwollen, wo man sie aber auf keinen Fall haben möchte.

In einigen Fällen, wie beim Krieg im Sudan, ist der Zusammenhang von Klima und Gewalt direkt, geradezu mit Händen zu greifen. In vielen anderen Kontexten heutiger und künftiger Gewalt – in Bürger- und Dauerkriegen, im Terror, in illegaler Migration, in Grenzkonflikten, in Unruhen und Aufständen – besteht die Verbindung zwischen Klimawirkungen und Umweltkonflikten nur indirekt und vor allem in der Weise, dass die Klimaerwärmung die globalen Ungleichheiten in den Lebenslagen und Überlebensbedingungen vertieft, weil sie die Gesellschaften sehr unterschiedlich trifft.

Aber ganz gleich, ob Klimakriege eine direkte oder indirekte Form dessen sind, wie Konflikte im 12. Jahrhundert gelöst werden – die Gewalt hat in diesem Jahrhundert eine große Zukunft.

Klimawandel, überlebensgroß

Der Klimawandel hat überlebensgroße Dimensionen, in mehrfache Hinsicht. Er ist das erste wirklich globale menschengemachte Geschehen: Gleichgültig, wer wo wann die Entwicklung des Klimas durch Emissionen beeinflusst hat – die Folgen dieser Einflussnahme können in einer ganz anderen Gegend der Welt und von ganz anderen Generationen zu spüren und zu ertragen sein. Ursache und Wirkung sind im Klimawandel auseinandergerissen – diejenigen, die die Folgen verursacht, und diejenigen die sie zu bewältigen haben, sind keine Zeitgenossen.

Die Probleme bei den Versuchen, noch irgendetwas an seiner Entwicklung zu steuern, gehen unter anderem auf diese eingebaute Verantwortungslosigkeit zurück. Das zeitliche, regionale und biographische Missverhältnis zwischen Verursachung und Wirkung steht der Zurechnung von Verantwortung ebenso im Wege wie die Zuschreibung von Pflichten, die aus der Abwendung der möglichen Katastrophe entstehen. Und da das Klima träge ist, kann sein Wandel vorerst nicht beeinflusst werden; was man tun könnte, wenn etwas getan würde, hätte auf Jahrzehnte kein sicht- und fühlbares Resultat – das Äußerste, was alle Anstrengungen hervorbrächten, wäre eine mit irgendwelchen unverständlichen Verfahren messbare Verlangsamung des Anstiegs von CO2 –Konzentrationen, aber die Gletscher würden trotzdem weiterschmelzen und die Eisbären auch dann aussterben, wenn die Skalenwerte sich verbessern.

Die Ungleichheit der Folgelasten ist in ihrer schieren Dimension wegen nicht zu kompensieren – schließlich kann man nicht die Hälfte der afrikanischen Bevölkerung umsiedeln, schon gar nicht, wenn wenn auch den Leuten aus Bangladesch und den Bewohnern der Arktis ihr Überlebensraum abhanden gekommen ist. Im Untedrschied zu Katastrophen wie dem Tsunami Weihnachten 2004 oder dem Hurrikan Katrina im Sommer 2005 ist der Klimawandel nicht irgendwann vorbei, und schon die Folgen dieser Flut und jenes Sturms überfordern das Vorstellungsvermögen der Zeitgenossen ebenso wie die Pläne und Kapazitäten des Katastrophenschutzen Wie stellt man sich aber dann eine gewusste, jedoch nicht gefühlte Katastrophe vor, die geeignet ist, die Verhältnisse auf der Welt zumindest in einigen Regionen radikal zu verändern? Gestattet der westliche Fortschrittsglaube und die damit verschwisterte Überzeugung, es gäbe nichts, was nicht gelöst werden könnte, überhaupt eine vernünftige Ausmessung der Dimension des Problems? Und falls ja: Was wären die lebenspraktischen Konsequenzen daraus?


Die Gegenwart der Katastrophe

Technische, natürliche und soziale Katastrophen, die unerwartet waren und sowohl das Vorstellungsvermögen wie die Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen, sind schon vorgekommen.

Der Unfall im Kernreaktor von Tschernobyl im April 1986 war eine technische Katastrophe, die statistisch nach den Berechnungen der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Kernschmelze nicht hätte passieren können, und die, als sie dann doch geschah, die Welt mit Fassungslosigkeit erfüllte. Das lag daran, dass erstens das Unerwartete eingetreten war, und dass man zweitens keine Ahnung hatte, wie man einer solchen Katastrophe Herr werden sollte. Und drittens daran, dass sich hier zum ersten Mal zeigte, dass Umweltbelastungen wie radioaktiver Fallout sich an Unterscheidungen zwischen Verursachern und Betroffenen nicht halten – auch Regionen in Schweden, Finnland oder Polen wurden verseucht, weil der Wind eben so wehte. Insofern war Tschernobyl ein früher Ausblick auf die Zukunft globaler Umweltdesaster. Übrigens stellt der Unfall auch ein Debakel für die Kontrollphantasien derjenigen dar, die sich ökologisch zu ernähren bemühten, und die jetzt froh waren, dass es holländisches Treibhausgemüse gab, das nicht vom Fallout verseucht war, der das kontrolliert biologische Freilandgemüse in schwach radioaktiven Abfall verwandelt hatte. Aber die größte Demoralisierung des Sicherheits- und Kontrollbewusstseins der Bewohner einer technischen Zivilisation stellt die Armseligkeit und Primitivität der Problemlösung dar – jener technologisch lächerliche Schutzmantel aus Beton um den schmelzenden Reaktorkern, der dauernd wieder brüchig wird und jeweils um eine weitere Schicht ergänzt werden muss, ist das eindringlichste Symbol dafür, dass es technische Katastrophen gibt, die nicht heilbar sind.

Mit einer natürlichen Katastrophe wie dem auf ein Seebeben zurückgehenden Tsunami vom zweiten Weihnachtstag 2004 verhält es sich etwas anders. Auch dieses Ereignis kam unerwartet, konnte aber schicksalhaft und damit als unabwendbar und unkontrollierbar verstanden werden – was es weniger beschämend und demoralisierend macht, als wenn die Ursache einer Katastrophe in einem großen banalen Fehler liegt, den Menschen gemacht haben. Aber auch der Tsunami war eine globale Katastrophe, nicht nur, weil er medial sofort weltweite Verbreitung fand, sondern weil so viele internationale Touristen betroffen waren. Er überforderte die Bewältigungskapazitäten der betroffenen Länder radikal und störte das Sicherheitsgefühl von Fernreisenden nachhaltig. Freilich war diese Katastrophe heilbar in dem Sinn, dass man die Toten betrauern und sich an die Restauration der Strände und Hotels machen konnte.

Die soziale Katastrophe des Holocaust liegt viel länger zurück, hat aber bis heute nachhaltige Wirkung, zumindest in der westlichen Welt. Dass aus der christlich-abendländischen Kultur ein Gesellschaftsverbrechen erwachsen könnte, das sich zuvor weder literarische Apokalyptiker noch politische Zyniker hatten vorstellen können, verstört noch heute, mehr als sechzig Jahrzehnte danach, jeden, der über den Charakter und die Dialektik von Zivilisationsprozessen nachdenkt. Dass man das Prinzip rationaler Problemlösung so weit treiben würde, dass die Einrichtung von Menschenvernichtungsanlagen als folgerichtig erscheinen konnte, war weder in den Theorien der Moderne noch im Bewusstsein ihrer Bewohner vorgesehen. Auch der Holocaust hatte globalen Charakter, weil ihm mit dem Weltkrieg, in dessen Rahmen er stattfand, Opfergruppen unterschiedlichster Herkunft und Nationalität zugeführt wurden ( insgesamt kamen die Opfer aus 20 Nationen, und er hatte auch insofern globale Wirkung, als die Nürnberger Prozesse, die das bis dato unvorstellbare Verbrechen juristisch zu fassen versuchten, die Geburtsstunde des heutigen Menschenrechtskonzepts und auch des Völkerstrafrechts war.

Die sozialen, politischen und psychologischen Folgen dieser Katastrophe haben sich freilich wiederum als nicht heilbar erwiesen – noch immer gibt es zwischenstaatliche Spannungen und transgenerationelle Wirkungen, die auf dieses soziale Ereignis extremer Gewalt zurückgehen. Der Holocaust ist überdies eine soziale Katastrophe, die das Weltvertrauen, jedenfalls des säkularen Westens, nachhaltig erschüttert hat. Er war die erste systematische Vorführung dessen, dass gerade in einer aufgeklärten Welt Menschen mit Menschen alles machen können, was ihnen richtig und vernünftig erscheint, weil ihnen keine transzendentale Instanz Verpflichtungen auferlegt, die den Freilauf der eigenen Vernunft begrenzen würden.

Technische, natürliche und soziale Katastrophen können also unvorstellbar groß ausfallen; bevor sie geschehen sind, gibt es keinen Referenzrahmen, in den sie eingeordnet werden könnten. Der Klimawandel als ökosoziales Problem hat insofern etwas mit diesen überlebensgroßen Katastrophen zu tun, für dessen Bewältigung weder Masterpläne vorliegen noch Handlungsanleitungen. Und eine psychologische Reaktion auf etwas, was bedrohlich ist, sich aber der Kontrollierbarkeit entzieh, ist im Normalfall Abwehr: Man reduziert die Dissonanz, die aus dem Bewusstsein einer unkontrollierbaren Bedrohung erwächst, indem man die Gefahr ignoriert oder sie kleiner macht, als sie ist. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig und reichen von Skepsis gegenüber der Wissenschaft bis zur achselzuckenden Einschätzung, bislang sei die Menschheit ja noch mit allem fertig geworden, warum also nicht auch mit der Erderwärmung?


Das Ende der sozialen Gewissheit und die Erschütterung des Vertrauens

Da sich Katastrophenfolgen sozial ungleich auswirken und nicht selten die Unfähigkeit von Regierungen und Administrationen offenlegen, mit unerwarteten Ereignissen umzugehen, folgen der der Bestattung der Katastrophenopfer und dem Taxieren der Schäden immer öfter Plünderungen, Massenproteste, Demonstrationen usw. Das war nach der Flut in New Orleans im Herbst 2005 nicht anders als nach der Brandkatastrophe in Griechenland im Sommer 2007. Sogar Systemwechsel können durch Umweltereignisse beschleunigt werden – so erfolgte etwa der Sturz der Somoza-Diktatur in Nicaragua 1979 nach einem Erdbeben.

Mit anderen Worten: Nicht beherrschbare Ereignisse führen zu Unmut bei denjenigen, die am meisten unter ihnen zu leiden haben – ihre Schutz- und Fürsorgeerwartungen an den Staat werden enttäuscht, und diese Enttäuschung artikuliert sich in Protest und nicht selten auch in Gewalt. Besonders heftig fallen Unruhen dann aus, wenn die jeweilige Katastrophe deutlich gemacht hat, dass diejenigen besonders hart getroffen werden, die arm sind und deshalb ohnehin wenig Bewältigungs- und Kompensationsmöglichkeiten haben. Hier schlummert ein Gewaltpotential, das mit künftigen Katastrophen virulenter wird, da auch diese asymmetrische Folgen haben.

Soziale Katastrophen zerstören soziale Gewissheiten; was zuvor die selbstverständliche Grundierung des Alltags bildete, verliert schlagartig seine Verlässlichkeit; die Rezepte, nach denen man sich bisher verhalten hat, erweisen sich als untauglich und die Regeln sind ungültig. Das Resultat ist eine tiefe „Erschütterung des Vertrauens in die eigene Kultur, in die Beherrschbarkeit von Risiken, aber auch in die Zuverlässigkeit insbesondere planenden, also auch voraussehenden Handelns“.

Die Verkürzung des Planungshorizonts, die Verengung von Handlungsspielräumen und der Verlust aller Selbstverständlichkeiten kann dort in Gewalt münden, wo es keine stabilen Institutionen der Konfliktregulierung gibt oder wo diese selbst durch ein beherrschbareres Ereignis in eine Krise geraten sind. Technische, natürliche und soziale Katastrophen, also nukleare oder chemische Unfälle, Erdbeben oder Tsunamis, Revolutionen und Völkermorde, können in verblüffend kurzer Zeit vorführen, dass Instabilität die Regel ist und Stabilität die Ausnahme.

Zugleich hat die Moderne in der Auflösung vergleichsweise träger traditioneller Produktions- und Beziehungsverhältnisse dafür gesorgt, dass sich die Lebensformen immer weiter flexibilisiert und die Beziehungsmuster kompliziert haben. Im Vergleich zum instabilen individuellen Leben erscheinen heute die Institutionen relativ verlässlich und dauerhaft, und sie sind es in der Regel auch. Jedenfalls sind im Zuge der Modernisierung viele Mittel der Herstellung von Vorausschau und Stabilität aus der direkten Verantwortung der Einzelnen ausgelagert worden – Gesundheits- und Altersvorsorge ist keine Aufgabe der Familie, sondern der Systeme der sozialen Versorgung, die Regelung von Konflikten ist keine Sache der Clans und Familien, sondern des Staates und seiner Organe, die Kontrolle von Risiken übernehmen Versicherungen. Das ist der normale Gang in funktional differenzierten Gesellschaften, und diese Delegationen von Verantwortung an Institutionen garantieren im Normalfall, wenn alles wie erwartet läuft, Kontinuität, Stabilität und Planbarkeit.

Die Kehrseite dieser Entwicklung steckt aber darin, dass die Wirkungsketten zwischen Maßnahmen, Interventionen und Folgen länger werden und sich der Sichtbarkeit dessen, was da eigentlich wie funktioniert, verringert, da „versorgungs- Transport-, Kommunikations- und andere Infrastrukturnetzwerke idealtypisch reibungsarm im Hintergrund der Funktionssysteme in Gang gehalten werden“. Im Krisenfall können sich diese Garantien freilich als Chimäre erweisen – und der Krisenfall ist es, der plötzlich spürbar macht, was eigentlich alles im Normalfall zum unauffälligen Funktionieren einer Gesellschaft dazugehört. Die abgeschotteten Bereiche des Funktionszusammenhangs werden im Augenblick ihres Versagens sichtbar – und insofern offenbaren Katastrophen, dass „in alltäglichem Handeln und Entscheiden Risiken und Gefahren systematisch ausgeblendet werden“. Dass dabei Selbstverstärkungseffekte von Unsicherheit, Fehlentscheidungen, Panikreaktionen usw. entstehen, die die Rückkehr zum Normalfall erschweren oder gar unmöglich machen , liegt auf der Hand – weshalb die Katastrophe selbst auch keiner inneren Ordnung oder Logik folgt, sondern hinsichtlich ihres Ergebnisses offen ist. Wenn sie groß genug ist, weiß niemand, was passieren wird.

Gleichwohl hat eine über nunmehr zwei Generationen anhaltende Friedens- und Prosperitätsphase in den westlichen Ländern dafür gesorgt, dass man Stabilität für das Erwartbare und Instabilität für ausgeschlossen hält. Wenn man in einer Welt aufgewachsen ist, in der nie ein Krieg stattgefunden hat, nie die Infrastruktur durch ein Erdbeben zerstört wurde, nie Hunger geherrscht hat, witd man Massengewalt, Chaos und Armut für ein Problem halten, das für andere vorgesehen ist. Die Referenzrahmen, die in Phasen relativer Stabilität ausgebildet werden, sind nicht auf Krisen oder Katastrophen geeicht, sondern allenfalls auf kleinere Unregelmäßigkeiten wie Waldbrände oder Überschwemmungen. Daher wird in solchen Regionen aus jedem Hochwasser eine „Jahrhundertflut“.

Das allerdings birgt die Gefahr, dass die Entstehung von Potentialen für rapide soziale Veränderungen selbst dann nicht gesehen wird, wenn sie fast schon mit Händen zu greifen sind. So sind die Menschen, die vor 1989 in der DDR und der Bundesrepublik gelebt haben. Davon ausgegangen, dass sich die Verhältnisse in beiden Ländern nicht radikal ändern würden; viele Juden in Deutschland waren noch bis zum Zeitpunkt ihrer Deportation derselben Auffassung, und die Menschen, die in der Umgebung des Atomreaktors von Tschernobyl lebten, haben das ebenso geglaubt – wie übrigens Untersuchungen zeigen, dass Menschen desto weniger Unsicherheitsgefühle artikulieren, je näher sie an einem Atomkraftwerk leben. Je unabweisbarer eine Gefährdung ist, desto größer ist das Maß an Dissonanz und desto notwendiger ihre Reduktion durch Indolenz, Verdrängung oder Abwehr. Man kann mit Gefahren, die man nicht kontrollieren kann, sonst nicht gut leben.

Die überlegene Anpassungsfähigkeit von Menschen an veränderte Umweltbedingungen liegt in ihrem Vermögen zur kulturellen Tradierung – neue Generationen finden die Kenntnisse und Techniken vor, die ihre Vorgänger entwickelt haben und können mit ihren Problemlösungsstrategien schon auf dem Niveau ansetzen, das die Generation zuvor erst entwickeln mussten. Was in den Theorien, die sich mit diesem faszinierendsten Aspekt der menschlichen Lebensform beschäftigen, allerdings leicht übersehen wird, ist das Problem, dass im Rahmen dieser sozialen Co-Evolution nicht nur evolutionär erfolgreiche Strategien tradiert, transgenerationell ausgebaut werden und global diffundieren, sondern dass auch Fehler gemacht werden, für die das genauso gilt.

Dabei kann kurzfristiger Erfolg, wie die atemberaubende Erhöhung der Überlebenssicherheit und des Lebensstandards in den frühindustrialiserten Ländern, die auf Ausbeutung von Ressourcen basiert und nur durch Wachstum bestehen kann, mittelfristig zum Desaster werden. Wenn alle Gesellschaften in den Sog der industriellen Moderne gezogen werden, gerät das Prinzip der Wohlstandsvermehrung durch Ausbeutung und Wachstum sehr schnell an eine natürliche Grenze. Menschen sind psychologisch aber so gebaut, dass sie lediglich abrupte Veränderungen ihrer Lebenswelt registrieren, schleichende hingegen nicht.

Es kommen also zwei psychologische Aspekte zusammen, wenn man es mit einem überlebensgroßem Problem zu tun hat, gegen das man nicht viel machen kann: die anachronistische Trägheit der Gefühle, die gelebte Erfahrung, dass schon nichts Weltbewegendes passieren wird, und das Bedürfnis, Dissonanzen zum Verschwinden zu bringen. Bei Norbert Elias wird diese Trägheit als Nachhinken des Habitus hinter der Fortentwicklung der Wirklichkeit beschrieben., was verhindert, dass der sozialen Transformation eine Transformation der Wahrnehmung Schritt hält. Wird sind noch, was wir gestern über uns geglaubt haben, schreibt Günter Anders, Einstellungen synchronisieren sich nicht mit veränderten Bedrohungslagen. Anders führt die „Apokalypseblindheit“, die Unfähigkeit, reale Gefahren angemessen einschätzen und auf sie reagieren zu können, auf den „generationslangen Glauben an den angeblich automatischen Aufstieg der Geschichte“ zurück. Die Kehrseite dieser Trägheit gegenüber Veränderungsprozessen und der Unfähigkeit, ihre Dimension einzuschätzen, ist das Phänomen der shifting baselines: Wahrnehmung und ihre Interpretationen verschieben sich unmerklich zusammen mit einer sich verändernden Wirklichkeit.


Veränderte Wirklichkeiten und gleitende Referenzpunkte

In der gleitenden Gegenwart ist es schwer, zu entscheiden, ob man sich an einem kritischen Punkt einer Entwicklung befindet, ab welchem Niveau eine Entscheidung irrreversibel wird oder in welchem Augenblick des Verfolgens einer Strategie eine Katastrophe entsteht. Wo wäre dieser Punkt auf der Osterinsel gewesen, die sich durch die rastlose Tätigkeit ihrer Bewohner von einem grünen Idyll in eine Einöde verwandelte? Von heute aus würde man sagen: als so viel Baumbestand vernichtet war, dass der Wald sich nicht mehr regenerieren konnte. Aber das hat man damals, auf dieser Insel, vermutlich nicht wissen können. Das verfügbare Umweltwissen und die mentalen Referenzrahmen, die einen angemessenen Umgang mit der Welt vorgaben, ließen wahrscheinlich gar nicht zu, dass man so etwas hätte besser wissen können. Deshalb ist Jared Diamonds Frage, was jener Osterinsulaner gedacht hat, der den letzten Baum fällte, falsch gestellt: Denn das Verhängnis liegt nicht am Ende eines Zerstörungsprozesses, sondern dort, wo noch niemand sehen kann, dass sein Tun zerstörerisch ist.

Die soziale Katastrophe der Osterinsel beginnt nicht, wenn der letze Baum gefällt wird, so wenig wie der Holocaust mit der Installierung der ersten Gaskammer in Auschwitz anfängt. Soziale Katastrophen beginnen dort, wo falsche Entscheidungsrichtungen eingeschöagen werden – also dort, wo Distinktions- und Statusregeln auf der Osterinsel den Verbrauch von Holz für die Skulpturenproduktion fordern oder dort, wo wissenschaftlich begründete Annahmen über die Ungleichheit von Menschen in Deutschland den Rang von Gesetzen und Verordnungen erhalten. Aber – um beim Beispiel des Holocaust zu bleiben – wie bewusst konnte das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht entworfene Verhängnis der Juden in einer Gegenwart werden, als noch niemand an so etwas Bizarres dachte wie an die Erfindung von Menschenvernichtungsanlagen?

Es gab starke Stürme, und in den Regenwäldern fiel kein Regen. In den knochentrockenen Urwäldern in Borneo und Brasilien, Peru und Tansania, Florida und Sardinien wüteten Waldbrände von nie dagewesener Heftigkeit. Neuguinea verzeichnete die schlimmste Dürre seit 100 Jahren, und Tausende verhungerten. Ostafrika erlebte die verheerendsten Überschwemmungen seit 50 Jahren – mitten in der Trockenzeit. Uganda war mehrere Tage von der Umwelt abgeschnitten, ein Großteil der Wüste im Norden stand unter Wasser. Mongolische Stammesangehörige erfroren, während in Tibet so viel Schnee fiel wie seit 50 Jahren nicht mehr. Im Wüstenstaat Kalifornien rissen Schlammlawinen Häuser von den Klippen. In Peru verlor an einem Küstenstreifen, an dem oft jahrelang keine Niederschläge fallen, durch Überflutung eine Million Menschen ihr Dach über dem Kopf. Der Panamakanal hatte einen so niedrigen Wasserpegel, dass er für große Schiffe nicht mehr befahrbar war. Eisstürme legten Stromleitungen durch Neuengland und Quebec lahm, so dass Tausende wochenlang ohne Strom und Licht auskommen mussten. In Indonesien fiel die Kaffeernte aus, in Uganda gingen die Baumwollpflanzen ein, und im Ostpazifik brach der Fischfang zusammen. Auf Grund einer nie da gewesenen Erwärmung der Meere zogen sich Abermilliarden winziger Algen, die den Korallen ihre Farbe verleihen, von den Riffen überall im Indischen und Pazifischen Ozean zurück und hinterließen die farblosen Skelette ihrer toten Wirte.“

Fred Pearce. Das Wetter von morgen . Wenn das Klima zur Bedrohung wird, München 2007


Soweit ein Bericht aus der Zukunft, wenn die Klimaerwärmung um ein weiteres Grad vorangeschritten ist, sagen wir im Jahr 2018. Falsch: Alle aufgelisteten Ereignisse fielen in ein Jahr der Vergangenheit, nämlich 1998, und hingen mit dem Klimaereignis El Nino zusammen. Sie waren mithin kein Ergebnis der Erderwärmung, obwohl man davon ausgeht, dass auch El-Nino-Ereignisse in Zukunft wegen des Klimawandels häufiger auftreten werden. Die Ereignisse von 1998, denen man beliebige aus den Jahren 1999, 2000, 2001 etc. hinzufügen könnte, zeigen vor allem eins: die Vergesslichkeit, die Menschen gegenüber Katastrophen entwickeln, von denen sie nicht selbst betroffen waren, sondern die sie lediglich über die Medien wahrgenommen haben.

Hinsichtlich medial vermittelter Katastrophen hatten die vergangenen zehn Jahre einiges zu bieten – ein verheerender Brand des Regenwaldes in Borneo, der die Hauptstadt Palangkaraya 1997/98 monatelang im Smog verschwinden ließ und zwischen 800 Mio. und 2,6 Mrd. Tonnen Kohlendioxid freisetzte. Oder eine Serie von Tornados, die im Mai 1999 Oklahoma verwüsteten, 40 Tote und 675 Verletzte forderten und einen Schaden von 1,2 Mrd. US-Dollar anrichteten. Besonders spektakulär waren die Hurrikane: Mitch kostete 1998 mehr als 10 000 Menschen in Mittelamerika das Leben, Katrina setzte 2005 mit New Orleans zum ersten Mal eine westliche Großstadt unter Wasser, und Wilma war im selben Jahr gleich dreimal rekordträchtig: Als Nummer 22 der Hurrikansaison stellte er die bisherige Höchstmarke von 21 Stürmen pro Saison ein, war der stärkste atlantische Hurrikan, der jemals gemessen wurde und richtete Schäden in Höhe von 29 Mrd. US-Dollar an.

Solche extremen Wetterereignisse sind nicht neu, aber in dieser Häufung und Dimension treten sie erst seit einigen Jahren auf. Gleichwohl erscheinen sie den Menschen inzwischen als normal, die Aufmerksamkeitsintensität nimmt ebenso ab wie der Nachrichtenwert. Man hält zunehmend für „natürlich“, was eigentlich wenig mit der Natur, sondern vielmehr mit der eigenen Lebens- und Erfahrungszeit zu tun hat.

Veränderungen der sozialen und physischen Umwelt werden nicht absolut wahrgenommen, sondern immer nur relativ zum eigenen Beobachterstandpunkt (shifting baselines). Deshalb haben die in einer jeweiligen Gegenwart lebenden Generationen allenfalls vage oder abstrakte Vorstellungen darüber, dass nicht nur die bebaute und mit Infrastrukturen versehene Lebenswelt ihrer Vorgängergenerationen eine andere war, sondern auch die, die als natürliche Umwelt aufgefasst wird – dass zum Beispiel Auen- und Heidelandschaften als Produkt lange zurückliegender Abholzungen und Erosionsprobleme in Mitteleuropa schon seit den massiven Rodungen des Hochmittelalters bekannt sind.

Aber man muss die Zeiträume, in denen Veränderungen nicht bemerkt werden, gar nicht so weit strecken – in der Regel genügt der Übergang von einer Generation zur nächsten, um massive Veränderungen der Umweltwahrnehmung zu finden. So hat eine Gruppe von Ökologinnen und Ökologen unlängst untersucht, wie kalifornische Fischer Veränderungen in ihren Fischbeständen und Fanggründen im Generationsvergleich wahrnehmen. Das ist die bislang einzige empirische Untersuchung über sich verändernde Wahrnehmungen der Umwelt, und ihre Ergebnisse sind verblüffend. Die Forscher haben drei Generationen von Fischern danach befragt, wo aus ihrer Sicht welche Bestände zurückgegangen seien, welche Arten ihnen hauptsächlich ins Netz gegangen sind, was der größte Fang und wie groß der mächtigste Fisch war, den sie je an Bord gezogen haben. Die jüngste Befragtengruppe war zwischen 15 und 30 Jahre alt, die mittlere 31 bis 54 Jahre, die dritte entsprechend älter als 54 Jahre. Zwar sagten 84 Prozent der Befragten, dass es einen Rückgang der Bestände insgesamt gäbe, aber die Annahmen darüber, welche Fische wo nicht mehr vorkämen, fiel krass unterschiedlich aus. So nannten die Fischer der ältesten Gruppe elf Arten, die verschwunden waren, die der mittleren Gruppe sieben, aber die Jüngsten nannten lediglich zwei Fischarten, die in ihren Fanggründen nicht mehr vorkämen.

Die Jüngsten hatten auch gar keine Vorstellung mehr darüber, dass es dort, wo sie selbst täglich fischten, vor nicht allzu langer Zeit massenhaft Weißhaie, Judenfische (Epinephelus itajara) oder auch Perlaustern gegeben hatte. Derselbe Befund zeigte sich, als es um die Fischgründe ging. Während die älteste Befragtengruppe sich erinnerte, dass man früher nicht weit herausfahren musste, um die Netze zu füllen, müssen sie heute weit aufs Meer, um annähernd ausreichende Fänge zu machen. Von den jüngsten Befragten hatte niemand mehr auch nur eine Idee, dass man in Küstennähe überhaupt etwas fangen könnte, und deshalb hielt diese Regionen auch niemand für überfischt. Mit anderen Worten: In ihrem Referenzahmen gab es in der Nähe der Küste überhaupt keine Fische.

Diese rapiden Veränderungen in den Wahrnehmungen der Umwelt erklären, warum die meisten Menschen den Rückgang der Artenvielfalt ziemlich gelassen sehen: In ihrer eigenen Wahrnehmung nämlich verändert sich wenig, weil sie das Schwinden der Vielfalt von einem gleitenden Referenzpunkt aus betrachten. Dieser Befund ist Ökologen natürlich deprimierend, weil das zugleich bedeutet, dass ein Handlungsbedarf zum Schutz von Beständen, der aus der Sicht der Wissenschaft dringend erforderlich scheint, in der Alltagswahrnehmung erst mühsam vermittelt werden muss. Sozialpsychologisch liefert die Studie ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass sich die Einschätzungen von Menschen mit den Veränderungen ihrer Umwelt gleitend selbst verändern – das ist wie mit zwei Zügen, die auf parallelen Gleisen fahren und relativ zueinander stillzustehen scheinen. Shifting baselines beeinflussen natürlich die die Art und Weise, wie man Bedrohungen und Verluste wahrnimmt und bewertet, das also, was man für normal hält und was nicht.

Shifting baselines betreffen keineswegs nur die Sphäre des Biologischen, sie lassen sich vielleicht sogar noch besser im Rahmen sozialer Prozesse beschreiben. Wenn man sich etwa daran erinnert, welche Woge der Empörung Anfang der 80er Jahre die Absicht der damaligen Bundesregierung auslöste, eine Volkszählung durchzuführen, und die damaligen Debatten um den „totalen Überwachungsstaat“ und den „gläsernen Bürger“ mit der Sorglosigkeit vergleicht, mit der heute Kreditkarten, Mobiltelefone, Internetanschlüsse etc. benutzt werden, hat man ein vielsagendes Beispiel für eine shifting baseline im Bereich des Sozialen. Jeder Benutzer solcher Techniken hinterlässt elektronische Spuren seines Handelns, die jederzeit rekonstruierbar sind, und der Begriff des intimen Persönlichkeitsbereiches hat sich dadurch völlig verändert. Aber kaum jemand scheint sich dadurch in seinen Persönlichkeitsrechten eingeschränkt oder gar „gläsern“ zu empfinden, und dies ist wahrscheinlich gerade deshalb so, weil es sich hier nicht um eine absichtsvolle Erhöhung von Transparenz handelte, sondern um einen Kollateraleffekt technischer Innovationen, bei denen Kategorien wie informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz oder Persönlichkeitsrecht aus der Nutzerperspektive zunächst mal gar keine Rolle zu spielen scheinen. Die Technik erhöht die kommunikativen Möglichkeiten, die zugleich zu erheblichen normativen Veränderungen führen, was aber wegen des gleitenden Referenzpunktes nicht weiter auffällt.

Soziale shifting baselines lassen sich auch hinsichtlich der Akzeptanz von Normenveränderungen in der Sozialgesetzgebung ebenso verzeichnen wie etwa im Hinblick auf die Akzeptanz von Einsätzen der Bundeswehr. Ablesbar sind sie am sinkenden bzw. irgendwann ganz ausbleibenden Diskussionsbedarf. Besonders deutlich sind Beispiele aus dem ökologischen Bereich: So haben et5wa verschärfte Umweltschutzauflagen und erhöhte Energiekosten in den vergangenen Jahrzehnten zur Entwicklung erheblich effizienterer Automotoren geführt, während zugleich gestiegene Sicherheits- und Statusbedürfnisse die Fahrzeuge immer größer und schwerer werden ließen. Die Folge war ein kontinuierlicher Anstieg der Hubräume und Leistungen der Motoren, die die erzielten Effizienzgewinne weitgehend aufzehrten oder sogar ins Gegenteil verkehrten.


Shifting baselines lassen sich auch in Bezug auf Normen oder Überzeugungen verzeichnen, also auf Referenzrahmen, die darüber orientieren, was richtig oder falsch, gut oder schlecht ist.


Veränderte Referenzrahmen und die Struktur des Nichtwissens

Am 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung gegen Russland, notiert Franz Kafka in Prag in seinem Tagebuch: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.“ Das ist lediglich ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass Ereignisse, die die Nachwelt als historische zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr anderes wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht, und so gerschieht es, dass selbst außergewöhnlich intelligente Zeitgenossen einen Kriegsausbruch mitunter nicht bemerkenswerter finden als den Umstand, dass man am selben Tag seinen Schwimmkurs absolviert hat. Wann beginnt also eine soziale Katastrophe ?

In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Historische Ereignisse zeigen ihre Bedeutung erst im Nachhinein, nämlich dann, wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sich, mit einem Begriff von Arnold Gehlen, als „Konsequenzerstmaligkeiten“ erwiesen haben, also als präzedenzlose Ereignisse mit Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen eigentlich von solch einem heraufdämmernden Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben bzw. wahrnehmen und wissen konnten. Denn Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, mit den verfügbaren Referenzrahmen zu erfassen versucht, obwohl es sich um ein präzedenzloses Geschehen handelt, das selber erst eine Referenz für spätere vergleichbare Ereignisse liefern kann.

Aus genau diesem Grund haben, wie gesagt, viele der jüdischen Deutschen nicht die Dimension des Ausgrenzungsprozesses erkannt, deren Opfer sie wurden. Die nationalsozialistische Herrschaft wurde als kurzlebiges Phänomen betrachtet, „das man durchstehen müsse, oder als ein Rückschlag, auf den man sich einstellen konnte, schlimmstenfalls als Bedrohung, die einen zwar persönlich einengte, aber immer noch erträglicher war als die Fährnisse eines Exils“

Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt a.M. 1992

Die bittere Ironie liegt im Fall der Juden gerade darin, dass ihr Referenzrahmen Antisemitismus, Verfolgung und Beraubung aufgrund leidvoller historischer Erfahrungen ohne weiteres umfasste, er es ihnen aber gerade dadurch unmöglich machte, zu sehen, dass nun etwas geschah, was anders, nämlich absolut tödlich, war.

Insofern hängt, was man wissen kann, zu nächst davon ab, was man wahrnimmt, aber nicht nur deshalb ist die Erforschung dessen, was Menschen zu einem früheren Zeitpunkt gewusst haben, ein schwieriges Unterfangen. Denn Geschichte wird im Rahmen gleitender Referenzlinien wahrgenommen, weshalb sie ein für die Wahrnehmung langsamer Prozess ist, der erst durch Begriffe wie etwa „Zivilisationsbruch“ nachträglich auf ein abruptes Ereignis verdichtet wird – dann nämlich, wenn man weiß, dass eine Entwicklung radikale Konsequenzen gehabt hat. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der erst sukzessive sich zur Katastrophe auftürmte, ist also ein äußerst vertracktes Unterfangen – vertrackt auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung im Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist, das aber die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise gar nicht haben konnten. Man blickt also vom Ende einer Geschichte auf ihren Beginn und müsste gewissermaßen das eigene historische Wissen suspendieren, um für einen jeweiligen Zeitpunkt angeben zu können, was man damals gewusst hat. Norbert Elias hat es deshalb nicht zu Unrecht als eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.

Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 2004

Umgekehrt verfügt man als Zeitgenosse von Ereignissen nicht über das Wissen eines künftigen Betrachters dessen, was heute Gegenwart und morgen Geschichte ist. Die paradoxe Aufgabe wäre also, auszuloten, was unter gegenwärtigen Bedingungen nicht sichtbar ist, aber gleichwohl die Zukunft bestimmt. Eine solche Zukunftsheuristik kann sich nur auf eine einzige Quelle stützen: die Vergangenheit.


Die wachsende Kluft zwischen gesellschaftlicher Veränderung und habitueller Trägheit

Bei der Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungsvorgänge begegnet man immer von neuem einer Konstellation, wo die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in Richtung auf eine andere Stufe vorstößt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf einer früheren Stufe beharren,“ stellt Norbert Elias fest. „Es hängt ganz von der relativen Stärke des sozialen Entwicklungsschubes ab und von deren Verhältnis zur Tiefe des Einbaus und so zur Widerstandskraft des Sozialen Habitus der Menschen, ob – und wie schnell - die Dynamik des ungeplanten Gesellschaftsprozesses eine mehr oder weniger radikale Umstrukturierung dieses Habitus herbeiführt oder ob sich der Soziale Habitus der Individuen erfolgreich der weiterdrängenden Gesellschaftsdynamik widersetzt und sie sei es teilweise bremst, sei es auch völlig unterbindet.“

Es könnte sein, dass der ungeplante und ungleiche Entwicklungsprozess der Menschheit mit der ungebremsten Klimaentwicklung eine Dynamik erreicht hat, hinter der Habitusformen, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte herausgebildet haben, tatsächlich nur nachhinken können. Das weithin fehlende Vermögen, das Problem einer globalen Bedrohung mit angemessenen Dimensionen zu verstehen, spricht dafür, ebenso wie die verbreitete Indolenz gegenüber den Gewaltfolgen, die mit dem Klimawandel faktisch und potentiell verbunden sind. Und natürlich sind es die in internationaler Perspektive völlig disparaten Interessenlagen, die ein entschlossenes gemeinsames Abbremsen des Erwärmungsanstiegs auch mittelfristig verhindern werden. Die nachholenden Industrialisierungsprozesse in den Schwellenländern, der ungebrochene Energiehunger der frühindustrialisierten Staaten und die globale Verbreitung eines auf Wachstum und Ressourcenvernutzung setzenden Gesellschaftsmodells lassen es als unrealistisch erscheinen, dass ein Abstoppen der Klimaerwärmung bei plus zwei Grad bis zur Mitte des Jahrhunderts erreicht werden wird. Und dies ist ein Resümee, das nur auf die lineare Betrachtung der Dinge zurückgeht; autokatalytische Prozesse, die zur Beschleunigung der Entstehung sozialer Klimafolgen und zur Eskalation von Gewalt führen können, sind darin noch gar nicht berücksichtigt.

Auf der geophysikalischen Ebene können nicht-lineare Prozesse auftreten, die das Klimaproblem radikal verschärfen würden – wenn etwa das Auftauen der Permafrostböden Methan in ungeheuren Mengen freisetzt, was seinerseits das Klima beeinflusst, oder wenn Waldverluste oder Meeresübersäuerungen einen kritischen Punkt erreichen und bislang noch unabsehbare Dominoeffekte erzeugen. Auf der sozialen Ebene gilt dasselbe – wenn etwa Konflikte um Rohstoffe Kriege auslösen, die wiederum Flüchtlingsbewegungen zur Folge haben, die ihrerseits Grenzkonflikte verstärken, was inner- wie zwischenstaatlich zu unberechenbarer Gewalt führen kann. Die Logik sozialer Prozesse ist nicht linear; das gilt auch für die Folgen des Klimawandels. Nichts in der Gewaltgeschichte der Menschen deutet darauf hin, dass Zeitspannen des Friedens zugleich dauerhaft stabile Gesellschaftszustände anzeigen; die ganze Geschichte belegt, dass der massive Gebrauch von Gewalt immer eine Handlungsoption darstellt.

Gegenwärtig lassen sich Vertiefungen der globalen Asymmetrien genauso beschreiben wie Kriege, die ihre Ursache im Klimawandel haben und zu ganz neuen Formen endloser Gewalt führen. Da die härtesten Klimafolgen die Gesellschaften mit den geringsten Bewältigungsmöglichkeiten treffen, wird die weltweite Migration im Laufe des 21. Jahrhunderts dramatisch zunehmen und jene Gesellschaften zu radikalen Problemlösungen veranlassen, in denen der Migrationsdruck als Bedrohung empfunden wird. Wie tragfähig die Außenverlagerung der Grenzen und damit der Gewalt gegen die Flüchtlinge sein wird, wenn die illegalen Einwanderungen Zwischenländer wie Libyen, Israel, Algerien oder Marokko noch weiter überfordern, als es jetzt schon der Fall ist, muss offen bleiben.

Die Kehrseite der Sicherung der Außengrenzen Europas und Nordamerikas ist die kontinuierliche Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen nach innen und die Entstehung neuer Sicherheitspolitiken, die das staatliche Gewaltmonopol und die parlamentarische Gewaltlegitimierung unterlaufen – Stichwarte hierzu sind exterritoriale Lager, Entführungen, Exekutionen, Folter, Söldnerarmeen und die Privatisierung von Gewalt überhaupt. All dies steht in vitaler Wechselwirkung mit dem wachsenden Terror in Zeiten der globalisierten Moderne. Das Aufschaukeln gegenseitigen Gewaltgebrauchs geht, das zeigt der Erfolg der irregulären Gewalt im 20. Jahrhundert, erst immer zu Ungunsten der hochgerüsteten staatlichen Kriegsparteien aus und löst zweitens immer stellvertretende Angriffe auf die Sicherheit der etablierten Gesellschaft aus

Im 21. Jahrhundert wird, anders als im vergangenen, weniger aus ideologischen Gründen getötet werden, und auch nicht deshalb, weil wissenschaftliche Utopien Entwürfe dafür bereitstellen, wie die Welt nach den ewigen Gesetzen der Natur einzurichten wäre und wer diesen Gesetzen nach auszurotten sei. Das 21. Jahrhundert ist in Ermangelung zukunftsfähiger Gesellschaftsmodelle utopiefern und ressourcennah – es wird getötet, weil der Täter jene Ressourcen beanspruchen, die die Opfer haben oder auch nur haben möchten.

Kann man also wirklich glauben, dass sich die Dinge doch noch zum Besseren wenden werden? Mit der Verbreitung und Spürbarkeit der Klimafolgen, mit dem Wachsen der Not, Migration und Gewalt wird sich der Problemlösungsdruck verschärfen und der mentale Raum einengen. Die Wahrscheinlichkeit irrationaler und kontraproduktiver Lösungsstrategien erhöht sich. Das gilt insbesondere für die Gewaltproblematik, die durch den Klimawandel verschärft wird. Es besteht aller historischer Erfahrung nach eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die den Status von Überflüssigen bekommen und die Wohlstands- und Sicherungsbedürfnisse von Etablierten zu bedrohen scheinen, in großer Zahl zu Tode kommen werden; sei es durch fehlendes Wasser und mangelnde Ernährung, sei es durch Kriege an den Grenzen, sei es durch Bürgerkriege und zwischenstaatliche Konflikte infolge veränderter Umweltbedingungen. Das ist keine normative Aussage; sie entspricht lediglich dem, was man aus Lösungen gefühlter Probleme im 20. Jahrhundert gelernt haben kann.

Das alles wird nicht die Gestalt einer Wiederholung des Holocaust haben; Geschichte wiederholt sich nicht. Aber Menschen nehmen Probleme wahr, und wenn sie diese als bedrohlich für die eigene Existenz interpretieren, neigen sie zu radikalen Lösungen, solchen, an die sie vorher nie gedacht hätten. Den westlichen Kulturen muss man attestieren, dass sie diese Lektion des 20. Jahrhunderts nicht gelernt haben, sondern sich auf Humanität, Vernunft und Recht viel zugute halten, obwohl diese drei Regulierungen menschlichen Handelns historisch jedem Angriff erlegen sind, wenn er nur heftig genug ausfiel. Sehr lange werden diese Kulturen nicht mehr existieren, wenn sie an den gewohnten Strategien des Lösens von Problemen festhalten – vielleicht noch zwei, drei Generationen. Ihre Verweildauer wäre dann, gemessen an der Existenzzeit anderer Kulturen, lächerlich gering.

Die „Institutionen“, schreibt der Anthropologe Claude Levi-Strauss am Ende von „Traurige Tropen“, seinem melancholischten Buch, „die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, der gegenüber sie keinen Sinn besitzen, es sei denn vielleicht den, dass sie es der Menschheit erlauben, ihre Rolle in dieser Schöpfung zu spielen.“ Tatsächlich hat Kultur Sinn nur in sich selbst – als Technik, die Überlebenschancen sozialer Gruppen zu erhöhen. Ob dieses in der Evolution einzigartige Vermögen der Menschen , ihre Überlebensbedingungen durch kulturelle Tradierung kontinuierlich und exponentiell zu verbessern, mittelfristig erfolgreich sein wird, bleibt eine offene Frage. Dieses experimentum mundi dauert erst 40000 Jahre, die westliche Variante davon 250, und in diesem verschwindend kurzen Zeittraum ist mehr an Überlebensgrundlagen zerstört worden als in den 39750 Jahren davor. Zerstörte Überlebensgrundlagen sind nicht nur vernichtete Chancen der Gegenwart, sondern auch der Zukunft.

Die rastlose Tätigkeit der Menschen bestehe, fährt Levi-Strauss fort, in der fortschreitenden Auflösung einer komplexen Struktur und in der Nivellierung des Gefälles zwischen den verschiedenen Kulturen, also von Organisationsformen menschlicher Überlebensgemeinschaften: „Was die Schöpfungen des menschlichen Geistes angeht, so existiert ihr Sinn nur in Bezug auf ihn selbst, und sie werden im Chaos versinken. Sobald er erloschen sein wird. So dass sich die ganze Kultur als ein Mechanismus beschreiben lässt, in dem wir nur zu gern die Chance des Überlebens sehen möchten, die unser Universum besitzt, wenn seine Funktion darin bestünde, das zu produzieren, was die Physiker Entropie und wir Trägheit nennen. Jedes ausgetauschte Wort, jede gedruckte Zeile stellt eine Verbindung zwischen zwei Partnern her und nivelliert die Beziehung, die vorher durch ein Informationsgefälle, also durch größere Organisation gekennzeichnet war.“

Auch auf diese Weise lässt sich der Prozess der Globalisierung beschreiben – als ein sich beschleunigender Vorgang sozialer Entropie, der die Kulturen auflöst und am Ende, wenn es schlecht ausgeht, nur noch die Unterschiedslosigkeit bloßen Überlebenswillens zurücklässt. Das allerdings wäre die Apotheose jener Gewalt, zu deren Abschaffung die Aufklärung und mit ihr die westliche Kultur den Schlüssel gefunden zu haben glaubte. Aber von der neuzeitlichen Sklavenarbeit und der gnadenlosen Ausbeutung der Kolonien bis zur frühindustriellen Zerstörung der Lebensgrundlagen von Menschen, die mit diesem Programm nicht das Geringste zu tun hatten, schreibt die Geschichte des freien, demokratischen, aufgeklärten Westens eben doch seine Gegengeschichte der Unfreiheit, Unterdrückung und Gegenaufklärung. Aus dieser Dialektik, das zeigt die Zukunft der Klimafolgen, wird die Aufklärung sich nicht entlassen können. Sie wird an ihr scheitern.


Dr. phil. Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke.

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