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Historische Chance im Kampf gegen den Hunger verpasst

Von Martin Häusling



Das Erschrecken war 2008 groß, als es Hungeraufstände in 30 Staaten und die UN bekannt gab, dass die Zahl der Hungernden auf 963 Millionen gestiegen war. Hatte man nicht erst 2001 feierlich versprochen, ihre Zahl zu halbieren?

Die Agrarpreise explodierten und die Getreidelager waren leer. Doch das Erschrecken währte nur kurz. Ist nicht schon wieder alles in Ordnung? Die Agrarpreise sinken auf historische Tiefstände. Die EU hat wieder Überschussprobleme mit Fleisch und Milch, und die Finanzkrise hat die Bilder von Hungernden übertüncht.

Wir sollten uns sehr wohl Sorgen machen, denn das Problem ist nur vordergründig verschwunden. Es werden bald eine Milliarde Menschen sein, die dauerhaft hungern. An Lösungsvorschlägen und Ideen mangelt es nicht. Aber spätestens angesichts der Finanzkrise fehlt der politische Wille, grundlegend etwas daran zu ändern.

Damit wurde wieder mal eine historische Chance im Kampf gegen den Hunger verpasst.

Wir bewegen uns in Europa wie bei der Klimapolitik sogar rückwärts. Agrarpolitik in Europa überlässt man den altbekannten Lobbyverbänden, obwohl unsere falsche Agrarpolitik einen großen Teil Mitschuld an dem Welternährungsproblem trägt.

Die Jahrzehntelange Politik der subventionierten Agrarexporte hat dazu geführt, dass den Kleinbauern in der Dritten Welt systematisch die Existenzgrundlage entzogen wurde. Zur Sicherung eigener Exporte wurden „neue Märkte erschlossen“, neue Abhängigkeiten erzeugt und unsere Form der Ernährung exportiert.

Die nicht konkurrenzfähigen Kleinbauern gaben auf und füllen die Slums der Großstädte. Vergleichbar wäre es, wenn die USA auf die Idee kämen, ihre nicht verkäuflichen Autos staatlich subventioniert zum halben Preis bei uns auf den Markt zu werfen. Die europäische Automobilindustrie würde dagegen Sturm laufen.

Auf den Agrarmärkten der Dritten Welt ist dies gängige Praxis der Industriestaaten – nur die Proteste dagegen hört hier keiner.

Während man bei der Finanzkrise erkannt hat, dass ein enthemmter Markt ohne Regeln in ein Fiasko führt, setzen Bundes- und Europapolitiker bei der Nahrung auf einen „freien Welthandel“. Dabei herrscht aber keine Chancengleichheit. Wir kaufen gigantische Mengen von hochwertigem Eiweiß in Form von Soja aus dem Süden, werfen es bei uns in die Futtertröge, während selbst in Ländern wie Brasilien Millionen Menschen hungern. Die Kleinbauern werden von ihren Feldern gedrängt, um Platz zu machen für die Multis.

Eine subventionierte europäische Agrarindustrie liefert Fleisch und Milch nach Indien und China für die wohlhabende Mittelschicht. Damit exportieren wir auch einen Ernährungsstil, der auf gigantische Verschwendung setzt und nicht die Welt ernähren kann. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Industriestaaten, aufbauend auf bestehende Strukturen, eine Form des modernen Kolonialismus betreiben. Rohstoffe werden in Entwicklungsländern abgeschöpft und nach Weiterverarbeitung teuer weiterverkauft. Und unsere Überschüsse und Reste werden zu Dumpingpreisen dank Exportsubventionen genau jenen, denen die Rohstoffe genommen wurden, wieder angedreht.

Europa muss endlich seine globale Verantwortung wahrnehmen. Wir müssen aufhören, Agrarpolitik für Lobbyverbände zu machen und stattdessen eine Ernährungspolitik installieren, die allen Verbrauchern nutzt. Europa hat die Marktinstrumente dazu in der Hand. Bei der Milch wäre es ein Leichtes, die Produktion durch niedrigere Quoten zu begrenzen, statt diese abzuschaffen. Es darf keine Subventionen mehr für Massentierhaltung, Molkereien und Schlachthöfe geben.

Wir müssen bei uns Umweltstandards setzen, die ernst zu nehmen sind und die auch für alle Importe gelten. Chemie, die wir aus unserer Nahrungsmittelproduktion verbannen, sollte auch sonst nirgendwo genutzt werden – zum Schutz der Bauern und Verbraucher. Und warum besteuern wir nicht den Import von Gen-Soja mit einer Umweltabgabe?

Europa muss eine faire Partnerschaft mit dem Süden anstreben. Das Recht der Ernährungssouveränität muss allen Staaten zugebilligt werden und damit das Recht, die eigene Landwirtschaft zu schützen. Die Reglementierung von Marktzugängen ist sicher kein Heilmittel, aber die Finanzkrise hat gezeigt, dass selbst die liberalisierte Bankenwelt Beschränkungen und Kontrollen braucht. Das gilt erst recht für Nahrungsmittel, vor allem im Angesicht der weltweiten Hungerprobleme. Geld kann gedruckt werden, Essen aber wächst nicht im Supermarkt.



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